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Das andere Italien

Die antifaschistische Bewegung ist aus der Schockstarre erwacht

Am 25. April wird in Italien jedes Jahr die Befreiung vom italienischen Faschismus und vom deutschen Nationalsozialismus gefeiert. Diesmal waren in Rom etwa zehntausend Menschen auf der Straße und haben gegen die neofaschistische Regierung protestiert. In Mailand waren es Hunderttausend. Höchste Zeit. Nach dem Wahlsieg der Neofaschist/innen im September 2022 scheint das Land zumindest in Teilen aus seiner Schockstarre zu erwachen.

Der Ministerpräsidentin Giorgia Meloni kam das Wort Antifaschismus nicht über die Lippen. Sie sprach von einem Tag der Freiheit und nicht der Befreiung. In dieser auf den ersten Blick scheinbar unbedeutenden sprachlichen Verschiebung wird eines der zentralen Anliegen dieser Regierung deutlich: Es geht um nicht weniger als die Umdeutung und Neuschreibung der jüngeren italienischen Geschichte. Der Begriff des „Antifaschismus“ soll aus den Köpfen der Menschen gelöscht werden, damit nicht länger über den historischen und aktuellen Faschismus gesprochen werden muss. Entsprechend äußerte sich Ignazio La Russa, der Präsident des Italienischen Senats: „Die (italienische, R.K.) Verfassung bezieht sich an keiner Stelle auf den Antifaschismus. Die gemäßigten Parteien wollten der Kommunistischen Partei Italiens und der Sowjetunion dieses Geschenk nicht machen.“

Russa hat das zweithöchste Amt im Staat inne. In seiner Wohnung steht eine Mussolini-Büste: „Die gehörte meinem Vater, die schmeiße ich nicht weg“. Er sollte einmal ein Buch in die Hand nehmen und den Geschichtsunterricht nachholen, empfahlen Plakate in seiner Geburtsstadt. Denn im Artikel 12, Absatz 1 der italienischen Verfassung heißt es knapp und klar: „Die Neubildung der aufgelösten faschistischen Partei ist in jedweder Form verboten.“

Das Verbot der Reorganisation der faschistischen Partei in welcher Form auch immer ist keine spezifische Rechtsvorschrift, sondern ein wahrer Grundsatz der italienischen Verfassung. So sieht es auch Sergio Mattarella, der Präsident der Italienischen Republik: „Der 25. April ist das Fest der italienischen Identität, wiedergefunden und wiederbegründet nach dem Faschismus. Die Republik ist auf der Verfassung als einer Tochter des antifaschistischen Kampfes begründet. Wir sollten uns fragen, wo und wie wir stehen würden, wenn der Faschismus und der Nationalsozialismus die Oberhand gewonnen hätten. Die Verfassung ist die Antwort auf die zivilisatorische Krise, die der Nazi-Faschismus verursacht hat. Eine Antwort begründet auf der Niederlage des Totalitarismus. Der Faschismus führte Italien in die Katastrophe. Die Widerstandsbewegung war die moralische Revolte der Patrioten, und es war die Widerstandsbewegung, die zum Rückgrat der italienischen Freiheit wurde.“

Francesco Lollobrigida, Minister für Landwirtschaft in der aktuellen Regierung, gilt als einer der wichtigsten Strippenzieher im neofaschistischen Milieu. Schon als Sechszehnjähriger nahm er am Begräbnis von Giorgio Almirante, dem Gründer des Movimento Sociale Italiano (MSI) teil. (Die MSI war die authentische Nachfolgerin der Partei Mussolinis und konnte durch die Namensänderung ihr Verbot umgehen.) Der Sohn der berühmten Schauspielerin macht sich Sorgen um die Zukunft Italiens: „Wir müssen auch an das Italien von übermorgen denken. Aus diesem Grund werden wir Anreize für Geburten schaffen. Wir werden einen Wohlfahrtsstaat errichten, in dem jeder die Möglichkeit zum Arbeiten hat, um eine Familie gründen zu können. Wir dürfen uns nicht mit der Idee des ethnischen Ersatzes abfinden.“

Lollobrigida bezieht sich mit dieser Aussage auf die Theorie des weißen „Suprematismus“, der Überlegenheit der weißen Rasse, die in Italien durch eine „ethnische Umvolkung“ bedroht sei. Das ist keine neue Theorie, weder in Italien noch im Umfeld der extremistischen europäischen Rechten. Lollobrigida betreibt den gezielten Tabubruch, um Stimmen einzufangen. Ein nicht unerheblicher Teil der italienischen Bevölkerung fühlt sich zu Recht von Europa allein gelassen bei der Versorgung und Integration der außereuropäischen Flüchtlinge. Das Versagen Europas in der Flüchtlingspolitik ist ein Geschenk für die italienischen Faschist/innen.

Lollobrigida mit dem Spitznamen „Lollo beautiful“ ist derzeit der berühmteste Schwager Italiens. Er genießt das volle Vertrauen seiner Schwägerin Giorgia Meloni. Seit zwanzig Jahren ist er ihr rechter Arm und hat entscheidend an ihrer Karriere bis in die Staatsspitze mitgewirkt. Er hat die Listen der faschistischen Abgeordneten für Parlament und Senat zusammengestellt, er hat die Besetzung von Ämtern in staatlichen Unternehmen betrieben, er hat Berater/innen und Führungskräfte an Schnittstellen platziert. Und dabei seine alten Freunde nicht vergessen. Wie zum Beispiel Giancarlo Righini, den er mit wichtigen Vollmachten für den Haushalt und die Landwirtschaft ausgestattet hat. Er ist ein alter Weggefährte aus der MSI, der vor einigen Jahren anlässlich des 25. Aprils in den sozialen Medien seine Gefühle äußerte: „Ich ehre die jungen Kameraden, die bei der Verteidigung des Vaterlandes ihr Leben gelassen haben … sie sind jedes Jahr in meinen Gedanken und in meinem Gebet. Ich feiere (den 25. April, R.K.) nicht. Dort herrscht der rote Hass.“

Oder Francesco Acquaroli, dem er den Weg zum Präsidenten der Region „die Marken“ geebnet hat. Dieser veranstaltete zum Gedächtnis an Mussolinis „Marsch auf Rom“ gemeinsam mit einigen lokalen Bürgermeistern ein festliches Abendessen.

Wenige Tage vor dem 25. April polemisierte La Russa gegen die Partisan/innen, die 1944 in der Via Rasella „unrühmlich“ Mitglieder einer Militär-Musik-Kapelle erschossen hätten. Ruth Dureghello, die Präsidentin der Jüdischen Gemeinde Roms, reagierte sofort: „Das waren keine Musiker, sondern Soldaten der SS, die unser Land mit Hilfe der Faschisten besetzt hielten und Juden in die Vernichtungslager deportierten. Es leben hoch die Partisanen, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, um die Freiheit und Unabhängigkeit Italiens wiederherzustellen.“

Die Street-Art-Künstlerin Laika malte als ihre Antwort in der Via Rasella einen SS-Soldaten, der in Richtung La Russa „Abdanken (Dimission)!“ ruft. Die Wirkung blieb nicht aus. Mehr Menschen als üblich sind an den Ort des Attentats im Zentrum Roms gekommen. Street-Art-Kunst als Mittel, um den Verlust von Geschichtsbewusstsein aufzuhalten.

Robert Krieg

Aus: graswurzelrevolution 480, Sommer 2023.

Externe Referenzen

Quelle
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