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Klimakrise und öffentlich-rechtlicher Auftrag

Die Versäumnisse der öffentlich-rechtlichen Medien

Die Kultur der falschen Balance

Im September 2021 wurde die Virologin Melanie Brinkmann im Gespräch mit der Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim gefragt, was wir aus den Erfahrungen mit der Pandemie für den Umgang mit der Klimakrise lernen können. Die Antwort klang nicht sehr optimistisch, was die Wirkung einer frühzeitigen wissenschaftlichen Aufklärung betrifft. Sehr verbreitet sei die Haltung gewesen, erst einmal abzuwarten, ob überhaupt etwas passiert und sich die Intensivstationen tatsächlich füllen würden. Dann trat das von der Wissenschaft vorhergesagte exponentielle Wachstum ein mit den schwerwiegenden Folgen, die ein frühzeitiger Lock Down hätte abmildern können. „Man muss die bittere Erfahrung anscheinend erst am eigenen Leib spüren“, folgert Melanie Brinkmann, „und dieses Erfahrung machen die Klimaforschenden schon seit Jahren. Dass sie belächelt werden: Ist doch noch gar nicht wärmer! Ich habe während der Pandemie öfter gedacht: Wenn das bei der Klimakrise genau so läuft, sind wir auf verlorenem Posten.“ (1)

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stehen häufig nicht nur auf verlorenem Posten, sondern müssen für das Versagen der Politik auch noch den Kopf hinhalten. Attacken auf Wissenschaftler/innen und Expert/innen, die in der medialen Öffentlichkeit stehen, haben stark zugenommen, einschließlich Morddrohungen und tätlichen Angriffen. Dennoch ist ihr Auftreten in den Medien unersetzlich, denn sie tragen ganz entscheidend zur Aufklärung und kritischen Meinungsbildung bei. Kein Verständnis hat die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim für Menschen aus wissenschaftlichen Einrichtungen, die sich aus politischen Diskussionen mit der Begründung heraushalten, dadurch der Wissenschaft einen neutralen Anstrich zu geben: „Denen sage ich: Wenn ihr zu Hause bleibt, werden die Politiker eure Studien trotzdem in Talkshows bringen – und verzerren, falsch darstellen, missbrauchen.“ (2) Politische Talkshows seien Unterhaltungssendungen, die von der Konfrontation leben und für Differenzierung keinen Raum lassen. Es komme dann häufig zu einer False-Balance-Situation, in der „neben eine Person, die den Konsens der Forschungsgemeinschaft vertritt, jemand gestellt wird, der seine Behauptungen gar nicht belegen kann. Das wirkt für die Laien ausgewogen, ist aber eine Scheinausgewogenheit, eine falsche Balance.“ (3) Beispiele dafür liefern die Öffentlich-Rechtlichen mit leidiger Regelmäßigkeit bei hoher Einschaltquote. Anne Will fragte in ihrer Talkshow in der Woche vor der Bundestagswahl “Was ist uns das Klima wert?” und stellte damit eine Frage, die 1. die False-Balance-Diskussion bedient und 2. rein marktwirtschaftlich konnotiert ist. Auf diesem Niveau bewegt sich die öffentlich-rechtliche Talk-Kultur. Dabei verschwinden die globale Zerstörung der Biosphäre und die damit einhergehende Komplexität einer heraufziehenden Katastrophe, wie sie die Menschheit bisher noch nicht erlebt hat, in einem medialen Grundrauschen.

Das Versagen der Öffentlich-Rechtlichen bei der Klima-Berichterstattung ruft inzwischen sogar bekannte TV-Meteorolog/innen mit „subversiven“ Aktionen auf den Plan. Karsten Schwanke zeigte während des ARD-Tagesthemen-Wetterberichts eine Grafik, mit der er Anne Wills Themenstellung vor’s Schienenbein trat: Bereits seit den 80er Jahren nehmen die Extremwetterereignisse, die Milliardenschäden verursachen, exponentiell zu. Die zeitlichen Abstände zwischen ihnen werden immer kürzer. Der unpolitische Wetterbericht zum Feierabend als eher entspannter Abschluss einer Nachrichtensendung kann so zu einem politischen Ort werden, wenn es um die Klimakrise geht, und damit relevanter als weite Teile der übrigen Berichterstattung, wie der “Spiegel” schreibt: ”Dass der Klimawandel im beitragsfinanzierten Fernsehen im Zweifel im Wetterbericht vorkommt und nicht in jeder einzelnen Nachrichtensendung, jeder Auslandsreportage und jeder zweiten oder dritten Talkshow, das ist das eigentliche Versagen der öffentlich-rechtlichen Sender.” Dabei gibt es keine anderen Medien in Deutschland, die so gut aufgestellt sind wie die Öffentlich Rechtlichen, wenn es um die Verbreitung von Fakten geht. Mit einem internationalen Korrespondenten-Netz, mit wissenschaftlichen Redaktionen und hochwertigen Gesprächsrunden à la Scrobel.

Information und Aufklärung in neoliberalen Zeiten

Die Medien gehören mit der Exekutive, Legislative und Judikative zu den vier Säulen einer funktionierenden Demokratie. Das Bundesverfassungsgericht hat am 29. April 2021 in einem Urteil festgestellt, dass „die nationalen Klimaschutzziele und die bis zum Jahr 2030 zulässigen Jahres-Emissionsmengen insofern mit Grundrechten unvereinbar sind, als hinreichende Maßgaben für die weitere Emissionsreduktion ab dem Jahr 2031 fehlen.“ Damit erklärte das Gericht das im September 2019 auf Druck der Umweltbewegungen verabschiedete Klimaschutzgesetz für ungültig. Nach seiner Feststellung dürfen staatliche Handlungen oder Unterlassungen, deren Folgen erst in 20 Jahren oder noch später eintreten werden, die intertemporalen Freiheitsrechte der Bürger nicht beschränken. Eine historische Entscheidung, die die Politik zum Handeln zwingt.

Als tragende Säule bei der Einhaltung unserer Grundrechte sind die Medien nach diesem Urteil dazu verpflichtet, darüber aufzuklären, dass künftige Generationen in der Ausübung ihrer Grundrechte eingeschränkt werden. Denn bei der von Teilen der Politik und interessierten wirtschaftlichen Kreisen betriebenen Verzögerungstaktik in der Klimapolitik handelt es sich um ein grundgesetzwidriges Verhalten. Zur Einhaltung der Grundrechte auch künftiger Generationen müssen die Klimaschutzziele erreicht werden. Daraus entstehen neue Anforderungen an die Medien und ganz besonders für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Er muss sich nämlich Rechenschaft ablegen über die Folgen, die sich aus seiner mangelhaften Berichterstattung für die Klimaschutzziele ergeben.

Die Rundfunkräte als Aufsichtsorgan der öffentlich-rechtlichen Medien in Deutschland bilden in ihrer Zusammensetzung die Gesellschaft ab. So ist es vom Gesetzgeber gewollt. Das bedeutet zugleich, dass die gesellschaftlichen Debatten, die in der Öffentlichkeit geführt werden, auch in den Rundfunkräten ihren Widerhall finden. So kann die Frage, ob der Klimawandel menschengemacht ist oder nicht, auch im Rundfunkrat unterschiedliche Positionen hervorrufen unabhängig davon, dass der wissenschaftliche Konsens über den menschengemachten Klimawandel in der neueren Fachliteratur bei 99 Prozent liegt. Woran man aber spätestens seit den Ereignissen im Ahrtal nicht mehr zweifeln kann, ist die Tatsache, dass der Klimawandel längst auch Deutschland erreicht hat mit allen seinen furchtbaren Folgen. Einen Zustand der Natur, wie wir Älteren ihn noch erlebt haben, wird es in Zukunft nicht mehr geben. Es kann jetzt nur noch darum gehen, die laufende Katastrophe abzumildern, und das nicht nur bei uns, sondern weltweit. Einen Zustand der Natur zu erhalten, der möglichst einen Großteil der Menschheit weltweit überleben lässt. Das stößt auf Widerstand. Eine privilegierte Minderheit im globalen Norden will ihre Vorteile auf Kosten der Mehrheit verteidigen und die eigene Haut zu Lebzeiten retten, ohne einen Gedanken an die Zukunft der anderen zu verschwenden. Naive Klimaschützer/innen glauben, es genüge, die Politik und die Gesellschaft darüber aufklären, was der Klimawandel mit sich bringt. Dessen Folgen sind den Entscheidungsträger/innen natürlich längst bekannt. Sie bedürfen keiner Aufklärung. Es stellt sich vielmehr die Frage, um welche Interessen es geht, die bei einer strikten Einhaltung der Klimaziele geschädigt werden. Alle in der ökologischen Bewegung Aktiven müssen sich mit der Matrix unserer Gesellschaft befassen und kommen dabei nicht darum herum, sich der Kritik der kapitalistischen Ökonomie zu widmen; sonst begreifen sie nicht, in welcher Welt wir leben und welche Mechanismen des Neoliberalismus, der unser wirtschaftliches Handeln determiniert, den Widerstand gegen eine klimagerechte Politik mobilisieren.

Debatten anstoßen und Meinungen bilden

Friedrich Engels widmete sich in seiner Schrift „Die Dialektik der Natur“ dem Verhältnis von Mensch und Natur und der Rolle des Menschen dabei. Seine zentrale Botschaft hat der Stadtplaner und Publizist Robert Kaltenbrunner folgendermaßen zusammengefasst: „Wir beherrschen die Natur nicht, sondern befinden uns in ihr. Engels’ Argumentation fußt dabei auf drei Einsichten: Erstens, die Natur ist nicht bloß des Menschen Umwelt, sondern seine Mitwelt und sein Fundament. Am Ast, auf dem man sitzt, zu sägen, ist keine gute Idee. Zweitens, der Mensch sollte der Natur nicht als Eroberer begegnen, sondern als guter Treuhänder, der durch Schenkung Erworbenes („Gratisleistungen der Natur“) gleich gut oder verbessert an nachfolgende Generationen weitergibt. Drittens, der Mensch greift in die Natur ein. Er muss sie bebauen, um seine eigene Existenz zu sichern. Aber er sollte sie aus Eigeninteresse auch bewahren und deshalb die Wirkungen seines Handelns bedenken, sei es im Nahraum oder in der Ferne. Gerade unumkehrbare Folgen sollte der Mensch zu vermeiden trachten und potentielle Kipp-Punkte im Auge behalten.“ (4)

Nur wer sich ernsthaft bemüht, unsere heutige, globale, klimabedrohte und unglaublich komplexe Welt verstehbarer zu machen, der kann auch glaubhaft behaupten, sie verändern zu wollen. Die Aufklärung und Information über den Klimawandel gehört zu den vornehmsten Aufgaben der öffentlich rechtlichen Medien, denn laut Rundfunkstaatsvertrag, Abschnitt Vorschriften für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, ist ihr Auftrag, „durch die Herstellung und Verbreitung ihrer Angebote als Medium und Faktor des Prozesses freier individueller und öffentlicher Meinungsbildung zu wirken und dadurch die demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Gesellschaft zu erfüllen.“ Der Auftrag besteht also nicht nur darin, Programme anzubieten, sondern ein Faktor im Prozess der Meinungsbildung zu sein, mithin Debatten anzustoßen und Fakten, die sonst nicht bekannt würden, in den öffentlichen Diskurs einzuspeisen. Denn daran mangelt es häufig, wie es sich gerade auch im Streit um die Frage des vom Menschen verursachten Klimawandels zeigt.

Bisher sind die ÖRR ihrer Aufgabe nur ungenügend nachgekommen, was die Klimakrise betrifft. Dabei sind sie der ideale Ort, an dem das Verhältnis von individueller Handlungsautonomie und sozialer Ordnung immer wieder neu austariert - und an dem das Gemeinwohl sowohl unter Krisen- als auch Digitalisierungs-bedingungen ausbuchstabiert werden kann. Zentrale gesellschaftliche Themen müssen der Gesamtgesellschaft zugänglich gemacht werden in Form eines Angebots, das sich potentiell an alle richtet. Das lässt sich in erster Linie durch ein lineares Programm verwirklichen, das auch zeitnah auf Entwicklungen reagiert. Wobei die Ausspielwege - ob klassisch oder im Internet – gleichwertig sind.

Wie sehr die Menschen das benötigen, hat sich in diesen Zeiten der Pandemie gezeigt. Aber überkommene Programmvorstellungen halten an alten Ritualen fest, die die Wirklichkeit überholt hat. Man fragt sich, warum es eine tägliche Berichterstattung zur Börse gibt, die für 17,5 % der Bevölkerung – also der Gruppe, die Aktien besitzt – interessant ist, aber keine tägliche Sendung zur Klimaentwicklung, die für 100 % der Bevölkerung entscheidend ist? So etwas lässt sich wirkmächtig in erster Linie durch ein lineares Programm realisieren. Das lineare Programm der Öffentlich-Rechtlichen bleibt das geeignete Instrument, die großen Themen, die alle angehen, tagesaktuell und kontinuierlich zu begleiten, kritisch zu hinterfragen und zu kommentieren. Und damit die Menschen in ihrer Meinungsbildung zu begleiten, das ist eine Kernaufgabe der Öffentlich-Rechtlichen.

Eine realistische Perspektive wäre, Aufklärung und Berichterstattung zur Klimakrise als Querschnittsaufgabe ressortübergreifend in allen Redaktionen der öffentlich-rechtlichen Medien zu etablieren. Die Herausforderung ist so groß, dass sie nicht mehr von einzelnen Fachredaktionen bewältigt werden kann. Zudem wirkt sich der Klimawandel auf alle Lebensbereiche aus, beruflich, kulturell und privat. Entsprechend müssten alle Programmsparten von der Politik über den Sport bis zur Unterhaltung mit der entsprechenden fachlichen Kompetenz ausgestattet werden. Dass das gelingen kann, hat die Nachhaltigkeitsdebatte im WDR bewiesen. Der Rundfunkrat hatte 2018 gefordert, „nachhaltige Entwicklung als übergeordnetes strategisches Unternehmensziel zu verankern und die Voraussetzungen hierfür zu schaffen, dass die Aspekte nachhaltigen Handelns als Querschnitts- und Führungsaufgabe strukturell und systematisch gestärkt werden.“ (5) Einiges davon ist inzwischen umgesetzt worden. Eine weitere Forderung wäre der radikale Umbau der politischen Talkshows in Gesprächsrunden, die Themen vertiefend ausloten und verständlich machen. Weg von den Selbstdarstellungen der politischen Prominenz hin zu Fachleuten, Wissenschaftlern und nicht zuletzt engagierten Bürgerinnen und Bürgern, denen es um die Sache und nicht um parteipolitisch oder persönlich konnotierte Interessen geht. Wenn wir den Planeten retten wollen, muss der Druck von unten kommen. Die Öffentlichkeit muss die Politik zum Handeln drängen. In Talkrunden können engagierte Menschen die öffentliche Meinung prägen. Gemeinsam mit ihnen können wir in die Zukunft schauen und nach Lösungen suchen.

Falsche Beratung beim digitalen Umbau

Der notwendige digitale Umbau der Öffentlich-Rechtlichen geht teilweise in die falsche Richtung. Er kapriziert sich auf die vielen Einzelinteressen einer segmentierten Gesellschaft und löst sie in Zielgruppen auf. Man spricht von Kundenprofilen, die jeweils einzeln zu bespielen seien. Als Öffentlich-Rechtliche reproduzieren wir damit selbst die immer weitergehende Segmentierung und Atomisierung der Gesellschaft, die mit dem Aufkommen des Privatfernsehens begonnen hat und sich mit dem Internet zum kollektiven Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom weiterentwickelt. Es geht in der Diskussion immer darum, die jungen Menschen zu erreichen, die nicht mehr über die herkömmlichen linearen Programme erreichbar sind. Ich halte das für ein vorgeschobenes Argument. Tatsächlich werden unter dem Einfluss von Unternehmensberater/innen und Apologet/innen der Privatwirtschaft die öffentlich-rechtlichen Medien zu einem Produkt umgedacht. Hier liegt der kardinale Fehler. Mit sogenannten Reformen werden Güter des gesellschaftlichen Gemeinwohls auf eine rein marktwirtschaftliche Zukunft getrimmt. Auf diese Orientierung wird jede Innovation abgeklopft. Eine zukünftige öffentlich-rechtliche Plattform soll der Logik der Aufmerksamkeitsökonomie folgen. Damit unterscheiden wir uns nicht mehr von dem Geschäftsmodell der Big Five aus dem Silicon Valley. Wir verlieren die Fähigkeit, uns auf das nicht sofort erkennbar Interessante einzulassen, wenn wir die Auswahl der Programme den Algorithmen der Aufmerksamkeitsökonomie überlassen. Wir befördern das Verschwinden der Neugierde auf Neues und die Ambiguitäts-Toleranz.

Wir sprechen immer davon, dass sich die Gesellschaft ständig weiter segmentiert und individualisiert. Darauf müsse man mit an diesen Segmenten orientierten Programmangeboten reagieren, am besten im digitalen Raum als Angebot per Knopfdruck. Aber gerade weil der gesellschaftliche Zusammenhalt in einer diversen, sozial und kulturell fragmentierten Gesellschaft nicht mehr selbst- verständlich ist, kommt den Öffentlich-Rechtlichen die zentrale Aufgabe zu, einen Raum für diesen Zusammenhalt herzustellen! Ohne den gesellschaftlichen Zusammenhalt - also eine Solidargemeinschaft, die auf gemeinsame Grundwerten basiert - verliert die Demokratie ihre Daseinsberechtigung. Das Gemeinwohl muss das Ziel von kulturellen und kommunikativen Anstrengungen sein. Hier zitiere ich gern Wolfgang Thierse: „Wir haben nur diese eine Gesellschaft. Und das „Wir“ verlangt wechselseitige geduldige und aufmerksame Zuhör- und Erklär- und Lernbereitschaft. Dies zu vermitteln, das genau sollte die Aufgabe von Deutschlandradio sein.“ (6) Ich erlaube mir hier in seinem Sinne – da bin ich mir gewiss –, das auf die Öffentlich-Rechtlichen insgesamt zu beziehen.

Gemeinwohl ohne Lobby

Doch das Gemeinwohl hat in einer auf Vereinzelung ausgerichteten Gesellschaft keine starke Lobby. Darauf hat bereits 1971 der konservative Staatsrechtler Ernst Forsthoff aufmerksam gemacht: „Nach demokratischen Grundsätzen erscheint die Annahme als zwingend, dass die Realisierungschance eines Interesses umso größer ist, je zahlreicher diejenigen sind, die an diesem Interesse Anteil haben, und dass ein Interesse aller die sicherste Gewähr alsbaldiger Verwirklichung haben muss. Diese Annahme wird von der Wirklichkeit widerlegt.“ (7) Die Vereinzelung des Menschen ist ein Kernelement der modernen Industriegesellschaft. Damit einher geht die Kultivierung des individuellen Interesses, dessen Verwirklichung von der Fähigkeit des Einzelnen abhänge. Mit der durchgängigen Ökonomisierung aller Lebenswelten ist ein neues Bild vom Menschsein entstanden. Dessen Ideologie läuft die Realisierung eines gemeinschaftlichen Interesses zuwider. Die moderne Industriegesellschaft lebt davon, dass das Konsuminteresse des Einzelnen gefördert und gepflegt wird. Dem sind gesamtgesellschaftliche Interessen unterzuordnen. Forsthoff hat schon vor fünfzig Jahren die Gefährdungen von Mensch und Natur durch die Industriegesellschaft aufgezählt, von der Verschmutzung der Meere und der Atmosphäre bis hin zur gentechnischen Veränderung des Menschen. Wer oder was kann diese Entwicklung stoppen? „Dass die Industriegesellschaft sich (...) Schranken selbst auferlegen werde, ist mit den Funktionsgesetzen der Industriegesellschaft“ - also mit dem Wachstumszwang – „unvereinbar und utopisch. (...) Das Verhängnis könnte nur durch eine organisierte Instanz abgewendet werden, die stark genug ist, der industriellen Expansion notwendige Schranken zu setzen (...) welche die Erfordernisse eines geordneten menschlichen Zusammenlebens gebieten.“ (8) Gemeint ist hier ein Staat in demokratischer Verfasstheit, dessen Organe das Gemeinwohl der Gesellschaft pflegen und schützen. In klarer Abkehr von den Wahnvorstellungen einiger Marktradikaler, die das Rad der Geschichte aufhalten wollen. Wenn sich die digitale Reform der Öffentlich-Rechtlichen in der Generierung möglichst vieler Klickzahlen erschöpfen sollte, leistet sie dem Gemeinwohl unserer bundesrepublikanischen Gesellschaft einen Bärendienst.

Im Entwurf der ARD-Leitlinien 2021/22 wird die Aufgabe der Öffentlich-Rechtlichen, sich in den Dienst des Gemeinwohls zu stellen, prominent betont. Im Entwurf des neuen Medienstaatsvertrags sollen die Aufsichtsgremien in programmlichen Fragen eine größere Mitverantwortung bekommen. Voraussetzung dafür ist, dass die Rundfunkräte in die Lage versetzt werden, die von der Geschäftsleitung ausgearbeiteten Vorschläge auf Augenhöhe analysieren und bewerten zu können. Das erfordert mehr Transparenz seitens der Intendanz und mehr fachliche Kompetenz auf Seiten des Rundfunkrats. Allerdings frage ich mich, ob das tatsächlich mehrheitlich gewünscht ist. Meine Erfahrungen im Rundfunkrat des WDR weisen leider in die entgegengesetzte Richtung, und das liegt nicht allein an mangelhafter Kompetenz und Entscheidungsschwäche. Es liegt auch an der Struktur und Zusammensetzung des Rundfunkrats. Trotz gegenteiligen Anspruchs, der ja im WDR Gesetz festgeschrieben ist, werden die wichtigen Entscheidungen im Rundfunkrat nach Parteienproporz getroffen. Nur zum Teil sind die unabhängigen, also nicht von Parteien gesendeten Mitglieder frei vom Einfluss der Parteipolitik. Hier hilft nur eine radikale Reform des Rundfunkrates. Es muss um die Sache und darf nicht länger um Interessen gehen. Ein gangbarer Weg wäre die zukünftige Wahl von Rundfunkräten nach dem Losverfahren, denen themenabhängig Fachleute zur Seite gestellt werden. Ein Rundfunkrat frei von Lobbyismus und politischer Einflussnahme könnte dafür sorgen, dass der Klimakatastrophe mehr Aufmerksamkeit in den öffentlich-rechtlichen Medien geschenkt wird.

Robert Krieg

Aus: Medien in der Klima-Krise. Hrsg.: KLIMA° vor acht. oekom, 2022

(1) „Die Zeit des Katzenvideos ist lange vorbei!“, chrismon 09.2021 S. 48

(2) a.a.O.

(3) a.a.O.

(4) Wo bin ich? Und warum?, Frankfurter Rundschau 07.09.2021 S.23

(5) Stellungnahme des WDR Rundfunkrats vom 30. August 2018

(6) Eine vielfältige Gesellschaft ist keine Idylle, Deutschlandfunk Magazin 06.2021 S. 9

(7) zit. nach Matias Greffrath „Follow the Science, Follow the Law!“ in: Blätter für deutsche und internationale Politik 07.2021 S. 62

(8) a.a.O.
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