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Wie entsteht „politisches Kino“?

Danach gefragt, wie politisches Kino entsteht, frage ich mich als politischen Filmemacher, welchen Anspruch ich damit verbinde. Für mich ist der politische Film ein Instrument der Aufklärung. Ich nutze es, um Menschen eine Stimme zu geben, die sonst ungehört bleiben würden. Ich lasse sie ihre Geschichte erzählen, die sonst keiner kennenlernen würde. Ich bin neugierig auf ihre Lebensentwürfe und die Utopien, die sich damit verbinden. In der Verbindung dieser Geschichten entsteht ein Bild der gesellschaftlichen Verhältnisse. Politischer Film ist der Versuch, auf die Gestaltung dieser Verhältnisse Einfl uss zu nehmen.

Als politischer Filmemacher beschäftige ich mich über einen längeren Zeitraum hinweg intensiv mit einem politischen Thema, um seine vielen und widersprüchlichen Facetten und deren Veränderungsprozesse nicht nur abstrakt, sondern auch sinnlich zu erfahren. Ich möchte hier stellvertretend für mein Vorgehen zwei Beispiele anführen: Das sind erstens der Israel-Palästina-Konflikt und zweitens die Verfolgung und Diskriminierung von Menschen, die von der Mehrheitsgesellschaft als „sozial minderwertig“ eingestuft werden.

1989 entstand „Intifada – auf dem Weg nach Palästina“. Dieser Film konzentrierte sich auf die massenhaften zivilen und gewaltfreien Widerstandsformen des palästinensischen Aufstands gegen die israelische Besatzungspolitik, die in sich den Kern einer zukünftigen Zivilgesellschaft bargen. Knapp zehn Jahre später, 1998, versammelten wir im Fechner’schen Stil neun Bürgerinnen und Bürger Israels um einen imaginären Tisch, die mehrheitlich als überzeugte Zionisten nach Palästina gekommen waren und als aktive Kämpfer für eine gerechte Zweistaatenlösung einen kritischen Blick auf die Zukunft wagten. Zurzeit entsteht ein Film in Bethlehem über sechs junge Männer, die der Generation der „Kinder der Steine” angehören. Wir wollen wissen, was aus der Aufbruchstimmung ihrer Jugend geworden ist und wie ihr Leben nach dem Zusammenbruch des Friedensprozesses aussieht.

Während meiner Studienzeit lernte ich Paul Wulf kennen, einen von ca. 400.000 Menschen, die während des NS-Regimes als „sozial Minderwertige“ zwangssterilisiert wurden. Er war einer der Ersten, der das Schweigen darüber brach und die Öffentlichkeit mit seiner Lebensgeschichte konfrontierte. Ich machte einen kleinen Videofilm und schrieb einen Text über seinen vergeblichen Kampf um Wiedergutmachung in dem 1984 von Götz Aly und Karl Heinz Roth herausgegebenen Buch „Erfassung zur Vernichtung. Von der Sozialhygiene zum Gesetz über Sterbehilfe“. 20 Jahre später realisierten wir den Film „Lebensunwert“ mit Paul Brune. Einmal als „sozial minderwertig“ eingestuft, überlebte Paul Brune die NS-Zeit und Nachkriegsjahre nur knapp. Trotz seines akademischen Abschlusses als Gymna siallehrer wurde er sein Leben lang als ehemaliger Anstaltsinsasse verfolgt und diskriminiert. Zur Geschichte von Paul Wulf und Paul Brune haben wir 2007 das Buch „Lebensunwert? Paul Wulf und Paul Brune. NS-Psychiatrie, Zwangssterilisierung und Widerstand“ herausgegeben. In den letzten Jahren ist eine Bewegung ehemaliger Heim insassen entstanden, die um ihre Rehabilitierung kämpfen und erstmalig in der Öffentlichkeit ernst genommen werden. Unser Film über Paul Brune wird inzwischen überall in Deutschland in der Ausbildung pfl egerischer und medizinischer Berufe eingesetzt.

Als politischer Filmemacher zu arbeiten bedeutet für mich auch, mich in einem politischen Kontext zu bewegen: Ich habe in den 1980er Jahren die Filmwerkstatt Münster in Nordrhein-Westfalen mit aufgebaut. Vorbild dabei waren für mich die britischen Filmworkshops, die in den 1970ern entstanden waren und sich wieder verstärkt der so zialen Realität der Mehrheit der britischen Bevölkerung zuwandten. Nach meinen Vorstellungen sollte unsere Filmwerkstatt ähnlich eingebettet sein in ein Netzwerk alter und neuer politischer, kultureller und sozialer Bewegungen. Sie sollte ihr ästhetischer Spiegel sein und sich gleichzeitig inhaltlich von ihnen befruchten lassen. Das hat nur sehr begrenzt funktioniert, da eine Mehrheit der Filmschaffenden andere Ziele verfolgte. In der Universitäts- und Beamtenstadt Münster existierten die alten und neuen sozialen und politischen Bewegungen vor allem im universitären Milieu und waren in der „normalen“ Bevölkerung sehr schwach ausgeprägt. Wir konnten uns aber als Profi s etablieren und unsere Filme in renommierten Kinos zeigen. Bis heute ist die Filmwerkstatt eine wich tige kulturelle Institution in der Stadt.

Politischer Filmemacher zu sein, bedeutet für mich, nicht nur politische Filme zu machen, sondern auch im Godard’schen Sinne politisch Filme zu machen. In den 1980er Jahren – als ich angefangen habe, Filme zu realisieren – gab es eine breite und vielfältige, politische und soziale Bewegung zu den Themen Abrüstung, Umwelt, Gender, Dritte Welt, antikoloniale Befreiungsbewegungen und Internationalismus. Der politische Film hat darauf reagiert und diese Bewegungen mit vorangetrieben. Meine Dokumentarfilme über den Widerstand der Palästinenser und der Sahrauis gegen Besatzung und Fremdherrschaft korrelierten mit dem Bedürfnis der Solidaritätsbewegungen, ihr Anliegen in die Öffentlichkeit zu bringen. Diese Filme waren für die konkrete Auseinandersetzung im Kino gemacht und weniger für den anonymen Rahmen des Fernsehens. Und es gab das Publikum dazu! Im Fall der Sahrauis spielte die Gender-Thematik noch eine besondere Rolle. Es sind im Film die Frauen, die in der algerischen Wüste das Überleben der Menschen in den Flüchtlingslagern absichern und die organisatorische Verantwortung tragen.

Politisch Filme zu machen war in den 1990er Jahren kaum noch möglich. Der „postmoderne Zynismus der 90er“ (Jan Hans), das Sicheinrichten im scheinbar Unumkehrbaren und der Zerfall der politischen und sozialen Bewegungen taten ihr Übriges. Es wurde das Ende der Geschichte ausgerufen. Meine persönliche Konsequenz war, mir ein neues politisches Umfeld an einem der Orte meiner Filme zu suchen. Dabei kam mir eine Anfrage von jungen palästinensischen Journalisten entgegen: Ich begann mit dem Aufbau eines Medienausbildungszentrums in Ostjerusalem. Mit dem Ziel, die Kompetenz des Filmemachens in die Hände derer zu legen, über die ansonsten nur berichtet wurde.

Was verstehe ich unter „politischer Film heute“?

Der politische Dokumentarfilm scheint wieder salonfähig zu sein: „Michael Moore und seine Epigonen haben ihn für den Mainstream neu erfunden ... Vom Instrument der Aufklärung ist er zuerst zu einem Instrument der Konfrontation und dann zu einem der Manipulation geworden“ (Georg Seeßlen). Die Attraktivität seiner Filme gerade bei jüngeren Zuschauern scheint Moores Konzept recht zu geben: Junge Menschen interessieren sich wieder für politische Inhalte. Generell stellt sich für mich dabei die Frage, ob diese neuen politischen Dokumentarfilme den Dingen wirklich auf den Grund gehen oder eher diffuse Gefühle der Wut und des Ausgeliefertseins bedienen, die aus der Ohnmacht gegenüber scheinbar unabänderlichen Verhältnissen entstehen. Auch wenn die Filme von Michael Moore große emotionale Nähe zum Zuschauer herstellen und sie möglicherweise sogar zu politischer Aktivität motivieren: Es reicht nicht aus, dass die Menschen die richtigen politischen Parolen rufen – sie müssen auch verstanden haben, warum sie diese Parolen rufen. Politischer Film sollte keine geschlossenen Weltbilder liefern. Er muss anstrengen, die Sinne ansprechen, Widersprüche zeigen und zu Widerspruch reizen. Es geht nicht um das große Wirgefühl, sondern um das Nachfragen, das mitunter ratlos machen kann.

Unter „politischer Film heute“ verstehe ich die Wiederentdeckung des Ästhetischen im Politischen. Hier kann man an der Kunst van Goghs anknüpfen. Auch van Gogh wollte als Maler den Dingen auf den Grund gehen, sie nicht nur naturalistisch abbilden. Sein Bild „Die Kartoffelesser“ (1885) mag hier als Beispiel dienen.

Van Gogh schreibt an seinen Bruder: „Ich habe mich nämlich sehr bemüht, den Betrachter auf den Gedanken zu bringen, dass diese Leutchen, die bei ihrer Lampe Kartoffeln essen, mit denselben Händen, die in die Schüssel langen, auch selber die Erde umgegraben haben; das Bild spricht also von ihrer Hände Arbeit und davon, dass sie ihr Essen ehrlich verdient haben ... Man muss die Bauern malen, indem man selber einer von ihnen ist und fühlt und denkt wie sie, indem man nichts anderes sein kann, als man ist.“ Van Gogh ist kein Romantiker. Er weiß sehr genau um seine Herkunft und die Besonderheit seines Tuns, die ihn nie einen Bauern werden lässt. Aber er hat unter ihnen gelebt und versucht, eine möglichst große Nähe zu ihnen her zustellen. Van Gogh faszinierte die Intensität des Blaus der Jacken und Hosen, die die Bauern auf dem Feld trugen. Um der Farbe Blau auf den Grund zu gehen und sie entsprechend malen zu können, beschäftigte er sich ausführlich mit der Herstellung des Stoffes, mit dem sich die Bauern kleideten.

Joris Ivens, einer der Doyens des politischen Dokumentarfilms, ging noch einen Schritt weiter. Er fasste selbst mit an, um einen Arbeitsvorgang sinnlich zu begreifen, bevor er ihn filmte. Das gelang ihm so gut, dass ihn während einer Filmvorführung ein chinesischer Arbeiter der Lüge bezichtigte. Wenn er wirklich ein Regisseur sei, dann könne er den Film nicht gemacht haben, denn ein Regisseur könne den Arbeitsvorgang nicht verstehen. Oder aber er sei kein echter Regisseur, sondern ein Arbeiter.

Van Gogh ging es darum, durch sein Bild beim Betrachter Eindrücke und Gedanken zu evozieren, die nicht unmittelbarer Teil der Darstellung sind. In der Begegnung des Politischen mit dem Ästhetischen kann Aufklärung im besten Sinn entstehen: Eine suggestive Kamera, ein assozia tiver Schnitt können den Zusammenhang zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen häufig besser begreifl ich machen als ein O-Ton oder Kommentar.

In einer Sequenz unseres neuen Films „Kinder der Steine“ blickt einer unserer Protagonisten, der in einer Hühnerschlachterei arbeitet, beunruhigt von seiner Arbeit auf. Im nächsten Bild sieht man eine Einheit der israelischen Militärpolizei, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite Gasgranaten abfeuert. Diese beiden Szenen sind nicht am gleichen Tag gedreht worden. Aber sie haben am selben Ort stattgefunden. Der assoziative Schnitt erzählt eine Realität, die hinter beiden Szenen liegt. Es gehört zum Alltag unserer Protagonisten im Film, als Unbeteiligte jederzeit und ohne Vorwarnung in eine militärische Auseinandersetzung verwickelt zu werden.

Das Bild des Käfigs voller Hühner korrespondiert mit mehreren Einstellungen von der neun Meter hohen Mauer, die die besetzten Gebiete von Israel abtrennt. Die Menschen in den besetzten Gebieten haben keinen Bewegungsspielraum. Wie in einem großen Freiluftgehege leben sie physisch und psychisch eingeengt ohne Perspektive und ohne die konkrete Möglichkeit, aus ihrem Leben etwas zu machen.

Der Trend im Dokumentarfilm geht zur Inszenierung. Fiktionale Anleihen können im Dokumentarfilm affektive Nähe und Empathie herstellen, zum Beispiel im Nachempfi nden von Angst, Hoffnung, Spannung oder Erleichterung. Dabei dürfen die inszenierten Anteile nicht die Illusion herstellen, dass „es so gewesen ist“. Der Zuschauer muss Zeuge der Darstellung bleiben und behält dadurch den Zugang zur Refl exion des Geschehenen. Herausragende Beispiele sind in jüngster Zeit die beiden Filme „Man on Wire“ und „Stranded“. Sie grenzen sich wohltuend ab von den Doku-Dramen und re-enactments, die das Fernsehen überfl uten und die politischen, kulturellen und sozialen Zusammenhänge auf banale zwischenmenschliche Interaktion und emotionale Identifi kation reduzieren, in denen sich der Zuschauer, ohne viel nachdenken zu müssen, jederzeit wiederfi ndet und bestätigt fühlt. Dramatisierung bis hin zum re-enactments eröffnet dem politischen Dokumentarfilm neben Archivmaterial und Dokumenten zusätzliche ästhetische Ausdrucksformen, Vergangenes zu erzählen, das man nicht mehr abbilden kann. Der Einsatz der ästhetischen Mittel hängt von den Inhalten ab, die man darstellen will: Der Zwang, zum Beispiel jedem Stoff einen erzählerischen Spannungs bogen auf zudrücken, ist absurd und geht am Bedürfnis der Zuschauer vorbei, die nicht nur unterhalten, sondern aufgeklärt werden möchten.

Es gibt genügend Zuschauer, die sich für politische Inhalte interessieren, auch wenn die Geschmacklosigkeiten des Privatfernsehens ein anderes Bild suggerieren. Projekte in Kindergärten und Schulen zeigen, dass sich erstaunlich viele Kinder für Politik interessieren, regelmäßig im Fernsehen die Nachrichten verfolgen und ihre Eltern befragen, wenn sie etwas nicht verstanden haben.

Wenn man es für politische Kultur hält, genau hinzuschauen auf unsere Verhältnisse, auf unsere Realität, dann soll der politische Dokumentarfilm ebendas leisten und ermöglichen: das genaue Hinschauen. Das ist meistens schon spannend genug.

Ich schließe mit einem Zitat von Rosa Luxemburg: „Es ist und bleibt die revolutionärste Tat, immer das laut zu sagen, was ist.“ Für unseren Kontext muss das heißen: das deutlich zu zeigen, was ist.

Robert Krieg

Aus: Mit Bildern bewegen – der politische Film heute. Eine Veröffentlichung des Julius-Leber-Forums der Friedrich-Ebert-Stiftung, Oktober 2009.
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