West-Kurdistan aus weiblicher Sicht
In der autonomen Region Rojava üben Frauen Tätigkeiten aus, die ihnen im übrigen Nahen Osten häufig verwehrt sind. Ihre Emanzipation dokumentiert Regisseur Robert Krieg – seine kommentarlose Froschperspektive ist die Stärke wie Schwäche des Films.
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Eine Frau bei der Baumwollernte: Im Kino wird dieses Motiv üblicherweise mit Ausbeutung und Sklaverei assoziiert. In diesem Film steht die Anfangsszene, in der eine Kurdin mit bloßen Händen die Baumwolle von den stachligen Pflanzen entfernt, für Freiheit und Unabhängigkeit – ebenso wie die Traktoristin, die anschließend ins Bild fährt.
Beide leben und arbeiten im Frauendorf Jin War, der ersten Station auf einer Reise durch die kurdischen Gebiete im Nordosten Syriens, auch bekannt als Rojava. Das de facto autonome Gebiet entstand 2012 am Anfang des Syrischen Bürgerkriegs, als das Assad-Regime die Kontrolle über den kurdisch besiedelten Norden des Landes verlor. 2016 wurde formell eine „Föderation Nordsyrien – Rojava“ ausgerufen.
Dominanz von PYD + YPG
Zudem wurde eine Art Rätesystem eingeführt, das allerdings von der „Partei der Demokratischen Union“ (PYD) dominiert wird, die als Schwesterpartei der türkisch-kurdischen PKK gilt. Außerdem übt die kurdische Miliz YPG in Rojava großen Einfluss aus; sie wurde international bekannt als führende Kraft im Kampf gegen den dschihadistischen „Islamischen Staat“ (IS) von 2014 bis 2017.
Mehr Lohnarbeit als Militär
Ein wesentlicher Teil der Gesellschaftsordnung in Rojava ist die rechtliche Gleichstellung von Frauen; medial wirksam verkörpert durch Bilder von Kämpferinnen der YPJ, den „Frauenverteidigungseinheiten“ der YPG, die am Kampf gegen IS-Truppen beteiligt waren. Seit zwei Jahren werden die kurdischen Verbände allerdings von der türkischen Armee und den mit ihr verbündeten sunnitisch-arabischen Einheiten bedrängt.
Doch das Militär spielt in “Tevî her tiştî“ kaum eine Rolle. Denn zur Gleichstellung gehört nicht nur der Dienst an der Waffe, sondern das Recht, überhaupt einer Lohnarbeit nachzugehen – der Film zeigt, wie sich Frauen in Rojava damit zurechtfinden. Dafür reiste Filmemacher Robert Krieg von Jin War über andere kurdische Ortschaften in die Großstadt Rakka, die vom IS drei Jahre lang bis 2017 besetzt war.
Zeigen + Zuschauen
Er begegnet Frauen, die ganz unterschiedliche Berufe ausüben: Sie arbeiten in einer Agrar-Kooperative, als Lehrerin für Englisch oder für Taekwondo, als Seidenstickerin oder Kunsthandwerkerin. Geduldig schaut die Kamera ihnen bei ihren Tätigkeiten zu. Abgesehen von einem Einleitungstext und Ortsangaben verzichtet der Film dabei völlig auf Erläuterungen oder Kommentare. Stattdessen beschränkt er sich ganz aufs Zeigen und Zuschauen, oder er lässt die Frauen miteinander sprechen, anstatt sie zu befragen.
Diese formale Strenge erweist sich als Stärke, denn die Nüchternheit der Bilder bewahrt sie vor Romantisierung. Städte sind vernarbt und voller Ruinen, viele Menschen sind traumatisiert und die Lebensumstände hart. Wasser und Strom sind rar, Handarbeit auf dem Feld, in der Küche und in der Werkstatt die Regel. Doch zugleich spielen Mobiltelefone für den Zugang zu Sozialen Medien eine große Rolle.
Männer sind gänzlich abwesend
So fungiert eine betagte Analphabetin als lebendes Archiv. Sie lässt sich dabei filmen, wie sie über Legenden, Kräuterkunde und Alltagsdinge spricht; diese Aufnahmen laden dann ihre Verwandte auf Facebook- und Instagram-Accounts hoch, um sie mit der übrigen Welt zu teilen. Eine Künstlerin befasst sich mit folkloristischen Motiven und alten Alltagsobjekten; ihre Werke verkauft sie ebenfalls online. Die Bewahrung der kurdischen Kultur wird damit zu einem weiteren Leitmotiv des Films.
Auffällig ist die Abwesenheit der Männer. Die Frauen von Jin War, denen der Film am meisten Zeit widmet, nennen unterschiedliche gute Gründe, unter Frauen zu leben. Zwei frühere Ehefrauen kamen mit den Familien ihrer Ex-Männer nicht zurecht. Eine dritte Frau hat sechs Jahre in militärischen Einheiten hinter sich und sucht nun wieder ihren Platz im zivilen Leben.
Politischer Kontext wird ausgeblendet
Tatsächlich tritt kein Mann vor die Kamera; Männer stehen nur hinter der Kamera. Ebenso fehlt jede Verortung in den rasch sich wandelnden politischen Verhältnissen in der Region. Dass das Assad-Regime mittlerweile gestürzt wurde und die türkisch-kurdische PKK ihre Auflösung bekannt gegeben hat, wobei der Vollzug noch aussteht, ließ sich vermutlich nicht mehr berücksichtigen, weil die Aufnahmen bereits vorher abgeschlossen waren.
Doch Regisseur Krieg gibt auch nicht preis, unter welchen Bedingungen er drehen durfte – gab es Vorgaben oder Einschränkungen der Machthaber in Rojava, und wenn ja, welche? Den politischen Kontext blendet der Film völlig aus. Er beschränkt sich strikt darauf, zu dokumentieren, wie Frauen unter dem Ballast patriarchalischer Traditionen „den aufrechten Gang lernen“. Damit gewährt “Tevî her tiştî“ einzigartige Einblicke in eine Lebenswelt, die sonst eher Gegenstand westlicher Spekulationen und Projektionen ist.
Eric Mandel
kunst+film, 9. Juni 2025