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Gemeinwohl oder Markt

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk am Scheideweg

Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Vier junge Menschen sitzen auf einer Wiese und teilen sich lachend eine Pizza. Über dem Bild ist der Satz eingeblendet: „Gemeinsam wollen wir das Leben jedes Einzelnen jeden Tag ein bisschen wertvoller machen.“ Was würde Ihnen dazu einfallen? Eine Werbung für eine Fast-Food-Kette? Oder die Anzeige eines digitalen Start-up-Unternehmens für Fertigkost? Weit gefehlt. Das ist die publizistische Vision der Programmdirektion des Westdeutschen Rundfunks (WDR). Damit hat sie im WDR-Rundfunkrat die „lineare und digitale Channelstrategie“ für das WDR-Radioprogramm bis zum Jahr 2025 vorgestellt. Schockiert Sie das? Mich leider nicht mehr, nach fast fünf Jahren als Mitglied im Rundfunkrat des WDR. Gewiss, wir leben in einer Welt, die von den Gesetzen des Marktes diktiert wird. Und das hinterlässt seine Spuren auch im öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ÖRR) und beeinflusst nachhaltig dessen aktuelle Reformanstrengungen. Dabei hat der Gesetzgeber eigentlich dafür gesorgt, dass der ÖRR nicht den Gesetzen der Marktwirtschaft unterliegt. Er gehört zur Grundversorgung, die der Staat seinen Bürger*innen garantieren muss. „Wenn es um Gas, Elektrizität oder Wasser geht, ist der Staat verpflichtet, die Energieversorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Sollte er nicht ebenso verpflichtet sein, wenn es um jene andere Art von ‚Energie’ geht, ohne deren Zufluss Störungen auftreten, die den demokratischen Staat selbst beschädigen?“, fragt der Philosoph Jürgen Habermas[1] und spielt damit auf die entscheidende Funktion des ÖRR an: Er ist als Teil der vierten Gewalt eine unverzichtbare Säule des demokratischen Rechtsstaats.

An dieser Aufgabe hat sich auch durch die Einführung des privaten Rundfunks 1984 nichts geändert. Im Gegensatz zum ÖRR handeln die privatwirtschaftlich organisierten Medien nach den Gesetzen des Marktes. Wie alle anderen Marktteilnehmer*innen finanzieren sie sich durch den Verkauf ihrer durch Werbung angepriesenen Waren, deren Geldwert sich nach der Akzeptanz durch ihre Zuhörerinnen und Zuschauer richtet. Deren Bemessungsgrundlage ist die Einschaltquote, die seit 1985 ermittelt wird. Auf dieser Grundlage werden die Werbepreise berechnet. Wer also glaubt, der Empfang und Konsum von privaten Radio- und Fernsehmedien sei im Gegensatz zu den ÖRR kostenfrei, der irrt gewaltig: Wir als Konsument*innen bezahlen indirekt die privaten Medien mit, denn die Produzent*innen von Pizza, Autos oder Müsli preisen die hohen Werbekosten in die Preise ihrer Produkte ein.

Bis zur Einführung der privaten Medien spielte die Einschaltquote für den ÖRR so gut wie keine Rolle, einmal abgesehen vom Konkurrenzdruck, dem sich die ARD nach Einführung des ZDF im Jahr 1963 ausgesetzt sah. Erst mit den Privaten setzte sich die Quote auch im ÖRR gegenüber der Qualität des Programms als Bemessungsgrundlage durch. Heute diskutieren die Redakteur*innen den Erfolg oder Misserfolg ihrer Programme ganz primär auf der Grundlage der Quote. In den Redaktionsstuben der für die Belieferung der sozialen Medien verantwortlichen Redakteur*innen werden inzwischen die „Likes“ gezählt und als Erfolg gefeiert. Qualitativ hochwertige Dokumentationen werden folgerichtig in das Nachtprogramm verschoben, da man von vorneherein geringe Einschaltquoten erwartet. Wie aber konnte es zu dieser fundamentalen Verschiebung der Legitimationsbasis des ÖRR kommen? Der Grund dafür liegt auf der Hand: Der ÖRR bildet die gesellschaftlichen Entwicklungen nicht nur in seinen Programmen ab, er ist zugleich ein Teil davon. Der marktliberale Geist, der die westlichen Demokratien heute beherrscht, hat auch vor dem ÖRR nicht Halt gemacht. Beim allgemeinen Bestreben, die Gesetze der Marktwirtschaft auf alle Bereiche des Lebens auszudehnen, ist den Programmverantwortlichen die Quote das Instrument der Wahl zur Durchsetzung dieses Prozesses innerhalb der öffentlich-rechtlichen Medien.

Mit dem Aufstieg der digitalen Medien sind nun noch die Klickzahlen in den sozialen Netzwerken dazugekommen. Im Zentrum des Interesses stehen dabei vor allem die Klicks der jungen Generation, da diese dem ÖRR abhandenzukommen droht. Wobei diese Gefahr viel uneindeutiger ist, als sie in der Öffentlichkeit kommuniziert wird: Dass nur noch ältere Menschen linear Radio hören und die Jüngeren ausschließlich Audios digital abrufen, hat mit der Realität nämlich wenig zu tun. Die Rekordzahlen, die „Deutschlandfunk“ und „Deutschlandfunk Kultur“ bei der jüngsten Erhebung seiner linearen Hörerschaft ermittelt hat, sind vielmehr auch auf die Zuwächse bei der Gruppe der 20- bis 29jährigen zurückzuführen. Und zugleich neigen die älteren Hörerinnen und Hörer immer mehr dazu, sich Podcasts herunterzuladen.[2]

Der herrschende Kurs der totalen Ökonomisierung zeigt sich exemplarisch bei der größten deutschen Sendeanstalt, dem WDR. Bei dessen Radiowellen lautet das strategische Reformziel, den tagesaktuellen Charakter des Mediums zu betonen: „Das lineare Radio muss sich wieder stärker auf seine Rolle als Livemedium beziehen [...] Die hauptsächliche Nutzung von audio-visuellen Kulturangeboten wird künftig vor allem im Netz stattfinden [...] Das bedeutet, dass wir auf Dauer mit hohem Anspruch weniger fürs Lineare produzieren wollen“, fordert die WDR-Programmdirektorin NRW, Wissen und Kultur, Valerie Weber.[3] Während das lineare Radio also niedrigschwellig, sprich: leicht konsumierbar daherkommt, soll sich das zukünftige digitale Programm durch große Produktionstiefe und exzellente Rechercheleistung auszeichnen und mit monothematisch vertiefenden Inhalten bestimmte Zielgruppen aufsuchen. „Für Kulturinhalte gilt: Das Digitale sollte eindeutig für den nachhaltigen Wert produziert werden, das Lineare für die überraschende Aktualität und die Live-Situation“, so Valerie Weber.[4] Das Ziel der Radioreform besteht demnach darin, die linearen Programme auf ihre Rolle als Livemedium, zuständig für Information und Aktualität, zu reduzieren, während alles Hintergründige und Anspruchsvolle im digitalen Programm in Form von abrufbaren Content-Formaten stattfinden wird. Mit der Umgestaltung des Radios zu einem Begleitprogramm, befreit von lästigen, sperrigen Inhalten – Stichwort easy listening –, glaubt man, die Einschaltquoten zu erhöhen. Zugleich möchte man mit qualitativ hochwertigen Angeboten im digitalen Raum seinem Kultur- und Bildungsauftrag nachkommen – und zwar mittels sogenannter Content-Formate, die einzelne Zielgruppen, aber nicht mehr die Gesamtgesellschaft erreichen sollen. Der eigentlich gesamtgesellschaftliche Auftrag der öffentlich-rechtlichen Medien wird so mit den im Silicon Valley entwickelten „Targeting“ verbunden: Je präziser das Targeting funktioniert, desto besser wird eine bestimmte Zielgruppe erreicht.

Auf dem Weg in die mediale Zweiklassengesellschaft

Ganz im Sinne ihrer marktwirtschaftlichen Orientierung lösen die für das Programm Verantwortlichen die Gesellschaft damit in immer kleinere Zielgruppen und Kundenprofile auf. „Man habe es heute mit zahllosen Communitys zu tun, die jeweils einzeln zu bespielen seien. Allein das literarische Publikum sei fragmentiert in eine Fantasy-Community, eine LGBTQ-Community, eine Avantgarde-Community und vieles weitere mehr. Die Aufgabe bestehe nun darin, nicht darauf zu warten, dass diese Leute das Radio einschalten, sondern in die digitalen Räume vorzustoßen, in denen sich diese Leute jeweils aufhielten“, gibt die „Süddeutsche Zeitung“ eine Diskussion zum Umbau der Kulturberichterstattung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk wieder und zieht daraus den Schluss: „Der Konflikt zwischen gesellschaftspolitischem Denken und plattformkapitalistischem Denken, der um die eigentlich im Rundfunkstaatsvertrag kaum kapitalismuskonform gedachten Rundfunkanstalten gerade tobt, liegt jetzt also offen zutage.“[5]

Für mich sieht dieses Herangehen an die zukünftige Aufgabe des ÖRR nach einem klassischen Fall von kognitiver Dissonanz aus: Obwohl man sich auf der Leitungsebene des WDR wie in den anderen Anstalten durchaus bewusst ist, dass man auch weiterhin ein Programm für die Gesamtbevölkerung machen muss, da andernfalls der Rundfunkbeitrag nicht mehr gerechtfertigt wäre, schreibt man gleichzeitig, was Kultur und Bildung angeht, einen Großteil der Bevölkerung faktisch ab. Die in den privaten Medien weitgehend verwirklichte Zweiklassengesellschaft – wertvolle Inhalte für die Reichen, eher Gebildeten, und minderwertige für die Armen, eher Ungebildeten – wird so auch zum Maßstab für die Produkte der öffentlich-rechtlichen Medien. Im „Wettbewerb der Daten um die Zeit und Aufmerksamkeit der Nutzerinnen und Nutzer“ werden Entscheidungen zunehmend der Logik des Marktes unterworfen. Ganz im neuen Marketing-Sprech soll den Menschen in Nordrhein-Westfalen anstelle des „linearen Audience-Flows“ eine ganz persönliche „User-Journey durch die Produktwelten des WDR“ angeboten werden. Wie aber löst man dieses Versprechen der schönen neuen Medien-Erlebniswelten ein? Durch die Entwicklung von Algorithmen auf Basis der Daten des Publikums. Das bedeutet: In Zukunft wird die bestmögliche Nutzung aller verfügbaren Daten zur Verbreitung mindestens genauso wichtig sein wie die Qualität der Inhalte. Was die zukünftigen Inhalte des digitalen Programms sein werden, bleibt im Rundfunkrat allerdings ein Geheimnis. Dafür hören wir um so mehr über den Umgang mit unseren Daten – wie beispielsweise mit Hilfe von künstlicher Intelligenz die Contentdaten der künftigen digitalen Produkte mit unseren Nutzungs- und Nutzerdaten vernetzt werden. Im neu geschaffenen Newsroom des WDR arbeitet man dafür an einem SEO-Assistenten. Das ist eine Suchmaschinen-Optimierung, die automatisch aufploppt und anzeigt, welche Beiträge zuletzt gut gefunden und häufig abgerufen wurden und folglich weitere Pflege verdienen.

Im Rundfunkrat haben wir häufig über die Vor- und Nachteile des zentralisierten Newsrooms diskutiert. Ich bin durchaus überzeugt von den Synergieeffekten bei der Herstellung von Programm für alle Ausspielwege – Fernsehen, Radio und digitale Medien. Aber ich sehe auch die Gefahr der Hierarchisierung von Entscheidungen über die zu sendenden Inhalte. „Der Newsroom hat einen Chef. Er allein ist für die publizistische Linie des Newsroom verantwortlich.“[6] Dadurch wird die Sicht auf politische Ereignisse auf einen Blickwinkel verengt. Diese Sorge wirkt inzwischen allerdings schon fast antiquiert, angesichts der grassierenden Optimierung des Programms einer Anstalt des ÖRR mittels Algorithmen à la Google. Wie aber wird all das die zukünftige Nachrichtenproduktion beeinflussen?

Dazu gibt es eine Auswertung der französischen Print-Medien: „Anhand von mehreren tausend Ereignissen, die in sozialen Netzwerken verbreitet und von den traditionellen Medien aufgegriffen wurden, stellten die Forscher*innen fest, dass die Popularität eines Themas auf Twitter – gemessen an der Anzahl der Tweets, Retweets und Zitate, die es generiert – auch die Berichterstattung in der Presse bestimmt: Steigt die Anzahl der Tweets um 1 Prozent, steigt die Zahl der Artikel um 8,9 Prozent.“[7]

Eine allein daran orientierte, auf marktradikale Prämissen und nicht auf gesellschaftsrelevante Themen setzende Programmreform ist jedoch unvereinbar mit der bisherigen Struktur der öffentlich-rechtlichen Medien: Über kurz oder lang dürfte sich die Bevölkerung fragen, warum sie noch für ein vorgeblich das Allgemeinwohl fördernde Gemeinschaftsprojekt seinen Beitrag zahlen soll, wenn dieses doch längst in Einzelteile parzelliert wurde. Dann wird man doch gleich besser Abonnent einzelner „Content“-Kanäle wie bei anderen Streaming-Diensten auch. Angesichts dieser grundsätzlichen Anfragen ist das Beharrungsvermögen umso erstaunlicher, mit dem schier unbeirrbar auf die neoliberalen Reformen gesetzt wird. Dabei hat uns doch die Pandemie soeben am Beispiel der öffentlichen Gesundheitsfürsorge vor Augen geführt, wohin die Privatisierung der Gemeinwohlaufgaben führt. Die globalen Krisen verunsichern und verängstigen die Menschen und lassen sie an der Wirkmächtigkeit der Demokratie zweifeln. Nicht wenige suchen nach „Schuldigen“ und nach autoritären Lösungen. Damit wächst die Aufgabe der öffentlich-rechtlichen Medien, ihrem gesamtgesellschaftlichen Auftrag nachzukommen, nämlich zur freien Meinungsbildung beizutragen, die für die Demokratie von existenzieller Bedeutung ist. Der ÖRR hat eine „dienende Funktion“ für die Gesamtgesellschaft – als der Ort, an dem im Prozess der öffentlichen Meinungsbildung das Gemeinwohl fortlaufend diskutiert und weiterentwickelt wird. Mehrfach haben höchstrichterliche Urteile die Unabhängigkeit des ÖRR von den Gesetzen des Marktes nicht nur garantiert, sondern zur Bedingung seiner Finanzierung durch die Allgemeinheit gemacht. Doch wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik werden heute Aufgabe und Funktion des ÖRR in Frage gestellt.

Gegen den »Selbstbedienungsladen« – und seine explodierenden Kosten

Die Kritik am Rundfunkbeitrag manifestiert sich vor allem in den neuen Bundesländern, wie die Entscheidung Sachsen-Anhalts gezeigt hat, der Anhebung des Rundfunkbeitrags nicht zuzustimmen und damit die Erhöhung für sämtliche deutsche Sendeanstalten zu blockieren. Aber auch viele Bürger*innen mit Migrationshintergrund haben für den ÖRR wenig Verständnis: „Warum soll ich diesen Rundfunkbeitrag bezahlen, ich guck doch sowieso nur die Privaten“, fragte mich jüngst ein Taxifahrer mit libanesischen Wurzeln. Entsprechend nervös reagieren Teile der politischen Elite, die um ihre Wählerstimmen fürchten. In Kreisen der CDU und CSU kursieren bereits Pläne, die Aufgaben und damit auch die Kosten der ÖRR radikal zusammenzustreichen. Dabei können sie auf erhebliche Unterstützung in der Bevölkerung zählen.

Speziell den Menschen im Osten fehlt teilweise das historische Bewusstsein für die demokratiepolitische Bedeutung des ÖRR. Und das nicht ganz ohne Grund: Viel zu lange wurden die östlichen Bundesländer im Programm nicht ernst genommen. Wenn in den Nachrichten von Frankfurt gesprochen wurde, war immer Frankfurt am Main gemeint. Dabei gibt es bekanntlich zwei deutsche Frankfurts. „Dass ein Ostdeutscher das automatisch mit Frankfurt (Oder) verbindet, war uns hier lange nicht klar“, gestand der langjährige „Tagesschau“-Chefsprecher Jan Hofer. Sein Resümee: „Die gefühlte Grenze ist noch immer da.“ Das belegt auch die Personalpolitik des ÖRR. Sehr lange gab es in leitenden Funktionen keine Menschen mit Ostbiographie. Wie in anderen gesellschaftlich relevanten Bereichen auch wurden Führungspositionen durch westliche Seilschaften systematisch verhindert – vorgeblich wegen der Stasi-Verstrickung des vorherigen Führungspersonals.

Doch nicht nur in den ostdeutschen Bundesländern wird der ÖRR heute nicht zuletzt als „Selbstbedienungsladen“ wahrgenommen. Und tatsächlich sind seine Kosten in den letzten 25 Jahren förmlich explodiert: Während die allgemeine Inflation die Verbraucherpreise um 35 Prozent gesteigert hat, wuchsen die Beitragseinnahmen der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in der gleichen Zeitspanne um sage und schreibe 70 Prozent. Dabei liegen schon lange Reformvorschläge auf dem Tisch, die aber aufgrund der herrschenden Kleinstaaterei- und Provinzfürsten-Ideologie immer noch nicht angegangen werden. So ist die Zusammenlegung vom Saarländischen Rundfunk (SR) mit dem Südwestrundfunk (SWR) und von Radio Bremen mit dem Norddeutschen Rundfunk (NDR) nicht nur möglich, sondern eigentlich längst überfällig. Schließlich haben Süddeutscher Rundfunk (SDR) und Südwestfernsehen (SWF) dies 1998 auch hinbekommen, und inzwischen läuft die Zusammenarbeit völlig reibungslos.[8] Dabei gibt es bis heute beim SWR ein nach den Ländern Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz getrenntes, sehr gut gemachtes Regionalprogramm, das beweist, dass der regionale Bezug keineswegs unter einer Zusammenlegung leiden muss. Auch die Zahl von 74 öffentlich-rechtlichen Radioprogrammen ist absurd hoch und wäre ohne qualitative Einbuße problemlos um einige zu reduzieren. Doch anstatt hier klug und vernünftig zu reformieren, reagiert der ÖRR auf den öffentlichen und politischen Druck mit einem noch marktkonformeren Verhalten. Um die eigene Finanzierung nicht zu gefährden, von der nicht zuletzt die überdurchschnittlich hohen Gehälter und Pensionen auf der Leitungs- und mittleren Ebene abhängen, richtet er sein Angebot noch stärker nach der vermeintlichen Nachfrage aus, was die Banalisierung des Programms weiter vorantreibt.

Mit Boulevard-Shows wie „Die letzte Instanz“ (die inzwischen eingestellt wurde, nach heftiger Kritik an der Verteidigung des rassistischen Begriffs „Zigeunerschnitzel“ in einer Sendung) versucht etwa der WDR den privaten Fernsehsendern Zuschauer abzujagen, um auf diese Weise die Quote zu halten. Fernsehen und Radio werden so zu einer leicht konsumierbaren Ware umgemodelt: „Auf dem gemeinsamen Nenner des sogenannten Human Interest entsteht das Mixtum Compositum eines angenehmen und zugleich annehmlichen Unterhaltungsstoffs, der tendenziell Realitätsgerechtigkeit durch Konsumreife ersetzt und eher zum unpersönlichen Verbrauch von Entspannungsreizen verleitet als zum öffentlichen Gebrauch der Vernunft anleitet“, kritisiert Jürgen Habermas die herrschende Tendenz.[9]

Statt sich auf seinen Kernauftrag der Aufklärung und damit auch die Infragestellung des Bestehenden zu besinnen, setzt der WDR auf weichgespülte Emotionalisierung. Davon sind besonders die kulturellen Formate betroffen, wie wir derzeit beim rabiaten Umbau des Kulturkanals WDR 3 erleben. Wie anders wäre die Zielvorgabe des „Programmbereichs Kultur und Gesellschaft“ zu verstehen, die die „Kreation eines emotionalen Kulturbegriffs“ einfordert? Offensichtlich haben die Senderverantwortlichen die eigens vom WDR in Auftrag gegebene Studie zum unterschiedlichen Begriffsverständnis bei seinen Hörer*innen und Zuschauer*innen nicht gelesen. Andernfalls wüssten sie, was diese unter Kultur verstehen. Die 2017 durchgeführte qualitative Befragung sollte herausfinden, wie die im Programmauftrag genutzten Begriffe (Information, Beratung, Bildung, Kultur und Unterhaltung) vom Publikum verstanden werden. Im Ergebnis wurde von den Teilnehmer*innen der Begriff Kultur schon in ihrem Alltagsverständnis mit etwas Herausgehobenem assoziiert: „In der Regel muss ein gewisser Anspruch gewährleistet sein. Oft muss es sich um etwas Besonderes und qualitativ Hochwertiges handeln, dem man mit Konzentration und Ernsthaftigkeit begegnen muss und für dessen Rezeption Bildung die Basis ist. Kultur hat für die Befragten in diesem Kontext ‚einen tieferen Sinn’ und ist ‚nicht nur zum Zeittotschlagen’ bestimmt. Der Anspruch kann sich auch in einem besonderen Rezeptionserlebnis äußern: ‚Man sitzt, hört zu und genießt.’“[10]

Immer dem »Megatrend der Individualisierung« hinterher

Diese Aussagen laufen den Anstrengungen diametral zuwider, mit denen der WDR derzeit sein Publikum neu zu (er-)finden versucht. Die Zuhörer*innen sollen neuerdings jederzeit ins Programm einsteigen können und dort mehr oder weniger zufällig auch mit Kulturellem in Berührung kommen, das nicht an einen festen Programmplatz gebunden ist. Die Beiträge sollen dafür dezidiert kürzer und aktueller werden, damit die Aufmerksamkeit stets gewährleistet bleibt. Wie aber lässt sich das mit einem Rezeptionserlebnis vereinbaren, bei dem man ganz bewusst „sitzt, zuhört und genießt“? Denn eines ist klar: Diese neue, verkürzte Form benötigt offensichtlich gerade nicht die Konzentration und Ernsthaftigkeit, die sich die Befragten wünschen. Kultur im Häppchenformat entspricht viel eher dem Wunsch nach Berieseln-Lassen als dem, nach einem tieferen Sinn zu fragen und zu suchen.

Warum aber gibt man ohne Not ein kulturelles Programm auf, das Kultur noch mit Anspruch assoziiert? Der ÖRR hat ganz offensichtlich Angst davor, als elitär zu gelten, deshalb entfernt er aus seinem Programm „angeblich Kompliziertes und ersetzt es durch Gefühltes“.[11] In Wahrheit tritt aber gerade in diesem Paternalismus eine bemerkenswerte Verachtung der Öffentlichkeit zu Tage, die der Gesellschaft als Gesamtheit einen tieferreichenden Bildungsanspruch faktisch abspricht und deshalb im linearen Programm bewusst vorenthält.

Am Ende des Jahrzehnts möchte der ARD-Vorsitzende und WDR-Chef Tom Buhrow „achtzig Millionen Programmchefinnen und -chefs“ mit hochwertigen Inhalten bedienen. „Der Megatrend der Individualisierung wird sich umfassend durchsetzen. Abgesehen von dramatischen Ereignissen und einzelnen Live-Events wird kein mediales Ereignis mehr weite Teile der Bevölkerung binden“, so Buhrows programmatische Ansage.[12]

Diese Entscheidung hinterfragt nicht die Hintergründe dieser Individualisierung, sondern nimmt sie als fast gottgegeben hin. Getreu der neoliberalen Grundüberzeugung, wie sie in bis heute unübertroffener Weise Margret Thatcher zum Ausdruck gebracht hat: „So etwas wie eine Gesellschaft gibt es nicht. Es gibt individuelle Männer und Frauen, und es gibt Familien. Und keine Regierung kann etwas tun, außer durch die Menschen, und die Menschen müssen sich zuerst um sich selbst kümmern.” Was bei einer derart fortgesetzten Segmentierung von Gesellschaft in unterschiedliche Gruppen und Interessenlagen am Ende herauskommt, konnten wir in den letzten Jahren beobachten. Die Überlagerung des gesellschaftlichen Gemeinwohls durch Partikularinteressen hat die angelsächsischen Gesellschaften tief gespalten und Populisten vom Schlage Donald Trumps und Boris Johnsons ausgeliefert. Dagegen ist die gesellschaftliche Bedingtheit des Individuums wohl noch nie so offenbar geworden wie in der Pandemie. Doch ungeachtet dessen und um der fortschreitenden Individualisierung Rechnung zu tragen, wird sich die ARD nach der Vision ihres Vorsitzenden bis 2030 in eine digitale Plattform verwandeln. Alle bisherigen Aussagen der Programmverantwortlichen dazu betreffen ganz primär die Organisation und kaum die Inhalte. Im Vordergrund steht immer und zuallererst die Frage, wie man mehr Hörerinnen und Hörer bzw. Zuschauerinnen und Zuschauer erreicht. Sie orientieren sich dabei an der marktradikalen Logik von Unternehmensberatern, die die medialen Inhalte der ÖRR als letztlich beliebige Produkte begreifen, die auf dem medialen Markt um die Zeit und Aufmerksamkeit der Nutzer*innen konkurrieren.

Dazu werden verstärkt die Nutzungs- und Nutzer*innen-Daten ausgewertet. Das angestrebte Ziel, die Nutzer*innen stets dort „abzuholen“, wo sie sind, und sie gerade nicht im Sinne eines Bildungsanspruchs auch in das Unbekannte mitzunehmen, führt zwangsläufig zu einer Verflachung des Programms und widerspricht im Ergebnis dem Auftrag des ÖRR. Zu diesem gehört es, Themen gerade auch dann zu setzen und dafür zu werben, wenn die Stimmung (noch) nicht danach ist. Bei der fraglos notwendigen Reform der ÖRR darf es daher nicht in erster Linie darum gehen, eine Marketing-Strategie für die „Marke“ ARD oder WDR zu entwerfen. Zu Recht wird daher im ersten Entwurf für die Leitlinien der ARD 2021/22 der zu fördernde Gemeinschaftsgedanke betont: „Wir wollen [...] der fortschreitenden Fragmentierung der Gesellschaft etwas entgegensetzen, ein Angebot erstellen, das verbindend wirkt, das Zusammenhalt und Identität stiftet, das Diskussionen anstößt, [...] und nicht allein ‚communities of interest’ oder Eliten bedient. Wir wollen das Zusammengehörigkeits-Bewusstsein in unserem Land stärken und nicht Vereinzelung befördern.“ Wie aber will der WDR diesen Anspruch erfüllen, wenn der Programmauftrag zunehmend fragmentiert wird und kulturelle Inhalte, die gesellschaftliche Identität stiften und sich mit Fragen des Gemeinwohls in vertiefender Weise beschäftigen, nur auf Nachfrage abrufbar sind? Wie kann ein Angebot verbindend wirken, wenn derartige Beiträge und Diskussionen gezielt aus dem Livemedium Radio herausgehalten werden?

Mehr relevante Inhalte und gesellschaftliche Debatten tun not

Die Initiative „Klima vor acht“ ist für mich ein gutes Beispiel dafür, warum derart ambitionierte Inhalte nicht in bloß abrufbare „Content-Formate“ verpackt werden dürfen. Bei der Klimafrage handelt es sich um die wohl wichtigste gesellschaftspolitische Debatte unserer Zeit, die täglich das Leben aller angeht. Einen breiten und stetigen gesellschaftspolitischen Diskurs dazu kann nur ein Live-Programm verwirklichen. Eine tägliche Klima-Sendung im Live-Programm der ARD würde der Debatte Stetigkeit verleihen und damit auch Menschen darauf stoßen, die sich sonst nicht unbedingt damit beschäftigen oder das Thema lieber von sich fernhalten wollen.[13]

Oder, um noch konkreter zu werden: Wie sollte in abrufbaren Content-Formaten die Tatsache, dass sozial Benachteiligte in unserem Land weit eher an Corona sterben,[14] so aufbereitet werden können, dass dadurch eine gesellschaftspolitische Debatte angestoßen wird? Offensichtlich ist das fast unmöglich. Dabei besteht genau darin die Aufgabe der öffentlich-rechtlichen Medien. Es gehört zu ihrem Kernauftrag, den Menschen als Mitgliedern dieser Gesellschaft eine Orientierung zu geben und diese im größtmöglichen Rahmen zu diskutieren. Solche gesellschaftsübergreifenden Inhalte müssen, gerade in Zeiten der autoritär-populistischen Versuchung, gemeinschaftlich debattiert werden. Bisher sind die öffentlich-rechtlichen Medien dafür – noch – ein geeignetes Instrument. Das bestätigen auch die jüngsten Umfragen, die ein gestiegenes Vertrauen in den ÖRR dokumentieren. „Ende 2020 gaben demnach 56 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer repräsentativen Befragung an, sie würden den (etablierten) Medien bei wichtigen Themen überwiegend oder vollkommen vertrauen. Das waren 13 Prozentpunkte mehr als ein Jahr zuvor.“[15]

Zu Recht belässt der Rundfunkstaatsvertrag den einzelnen Anstalten im Rahmen der Programmautonomie einen erheblichen Interpretationsspielraum bei der Umsetzung seiner Ziele. Ob die jeweilige Konkretisierung überzeugt, muss sich in dem in Rundfunkräten und in der Öffentlichkeit geführtem Qualitätsdiskurs erweisen. Dieser öffentliche Diskurs ist die zentrale Instanz, gegenüber der sich ein der Gesellschaft verantwortlicher Rundfunk legitimieren muss. Wenn aber die öffentlich-rechtlichen Medien nicht mehr vorrangig den gemeinschaftlichen Interessen einer Gesellschaft dienen wollen, bleibt der von MDR-Intendantin Karola Wille geäußerte Wunsch nach einem „gemeinwohlorientierten Kommunikationsnetzwerk“ eine bloße Fensterrede.

Heute stehen wir, und damit auch der ÖRR, an einem Scheideweg – zwischen einer den Marktradikalen überlassenen Gesellschaft und einer gemeinwohlorientierten Demokratie. Gerade in der Pandemie gibt es viele positive Anzeichen dafür, dass ein Umdenken in Richtung Gemeinwohlorientierung stattfindet. Als Rundfunkräte müssen wir aufhorchen, wenn dagegen von angeblicher quotenfixierter Alternativlosigkeit die Rede ist, und den Finger in die Wunde legen. Der gefährliche Trend zum neoliberalen Gestrigen beim Umbau des WDR-Programms, der den „Content“ als bloße Ware begreift, ist nicht unaufhaltsam. Als Aufsichtsorgan haben wir es in der Hand, den ÖRR daran zu hindern. Ja, die Widerstände sind groß. Autoritarismus greift nicht nur in der Politik um sich. Auch im WDR verschärfen sich illiberale Tendenzen: Das Vorgehen des Hauses bei der Durchsetzung der Reform von WDR 2, 3 und 5 ist dafür ein beredtes Beispiel. Man möchte die Kontrolle bewahren und alles, was sich dem widersetzt, am liebsten aussortieren. In diesem Sinne erklärt sich auch die Reduzierung der Rundfunkratssitze durch das neue WDR-Gesetz, die in erster Linie die Kulturbank und die politisch Unabhängigen trifft.

Einen echten Lichtblick bedeutet dagegen der ARD-Zukunftsdialog. Seine besondere Qualität liegt in der Beteiligung von 170 Bürger*innen, die per Losverfahren ausgewählt wurden und mit den Vertreter*innen der ARD am 8. Mai zu einer Auftaktveranstaltung zusammenkommen sind. An der Diskussion der in Dialogrunden herausgearbeiteten Erwartungen und Themen, die die ARD zukünftig anpacken soll, können sich den ganzen Juni über alle Bürger*innen des Landes auf einer Dialogplattform in sogenannten „Themenräumen“ beteiligen. Im November soll eine virtuelle Abschlusskonferenz mit den Losbürger*innen ein entsprechendes Resümee erarbeiten.

Ich persönlich könnte mir für die Zukunft durchaus auch einen Rundfunkrat vorstellen, dessen Mitglieder per Losverfahren aus den NRW-Einwohnerregistern ausgewählt werden. Damit würden die politischen Parteien, die die Beschlüsse des Rundfunkrats nach wie vor dominieren, in ihre Schranken verwiesen. Natürlich kann man gegen diesen Vorschlag auch begründete Einwände geltend machen. Der ehemalige Vorsitzender der Direktorenkonferenz der Landesmedienanstalten, Professor Norbert Schneider, stellt auf das große Kompetenzgefälle zwischen der Leitung eines Hauses und dem Rundfunkrat ab. Er favorisiert daher eine andere Strategie: „Mitglied eines Rundfunkrates zu sein, muss eigentlich ein Beruf werden. Er muss von dem Objekt, das er/sie kontrolliert, sehr, sehr viel Ahnung haben. Im Grunde genauso viel wie die professionellen Akteure.“[16] Die Diskussion um die zukünftige Zusammensetzung der Rundfunkräte ist also eröffnet. Und eines steht heute bereits fest: Frische Luftzufuhr würde dem ÖRR in jedem Falle guttun.

Robert Krieg

Aus: Blätter für deutsche und internationale Politik, Juni 2021.

[1] Zit. nach Stephan Hebel, Die gute Nachricht: Satire lebt!, in: „Frankfurter Rundschau“ (FR), 10.3.2019.

[2] Eva Sabine Kuntz, Editorial „Das Magazin“, in: „Deutschlandfunk“, April 2021.

[3] Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ), 16.3.2021.

[4] Ebd.

[5] Die Kuscheloffensive, in: SZ, 25.2.2021.

[6] Präsentation „Der WDR Newsroom“, 24.3.2017.

[7] Julia Cagé, Nicolas Hervé und Beatrice Mazoyer, Social Media and Newsroom Production Decisions, zit. nach Serge Halimi und Pierre Rimbert, Journalismus als Kulturkampf, in: „Le Monde diplomatique“, März 2021.

[8] Ganz zu schweigen von der durchaus komplexeren Zusammenlegung von Sender Freies Berlin und dem Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg zum RBB im Jahr 2003.

[9] Jürgen Habermas, zit. nach Stephan Hebel, a.a.O.

[10] Was ist eigentlich Information, Beratung, Bildung, Kultur und Unterhaltung?, in: „Media Perspektiven“, 12/2019, S. 560.

[11] Felix Stephan, Öffentlich-rechtlicher Rundfunk: Verrat am Kulturauftrag, in: SZ, 25.1.2021.

[12] „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ), 22.3.2021.

[13] Immerhin werden ab Juni 2021 die Formate „Wissen vor acht – Natur“ und „Wissen vor acht – Zukunft“ montags und dienstags um 19:45 Uhr den Fokus stark auf den Klimawandel legen.

[14] Laut Robert-Koch-Institut starben in sozial stark benachteiligten Regionen Deutschlands während der zweiten Infektionswelle bis zu 70 Prozent mehr Menschen. Vgl. den Beitrag von Christoph Butterwegge in dieser Ausgabe.

[15] „Frankfurter Rundschau“, 9.4.2021.

[16] Vgl. ver.di Senderverband WDR, 22.3.2021.

Externe Referenzen

Quelle
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