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Brief an einen spanischen Freund

„Wir versuchen zu verstehen, warum in Ost-Deutschland die Erb:innen des Nationalsozialismus die Wahlen gewinnen“, schrieb mir vor mehreren Wochen ein Freund, der in Asturien an der spanischen Atlantikküste lebt.

 

Asturien ist eine Region, deren Städte und Gemeinden von der Geschichte der Arbeiterbewegung und dem Kampf gegen den Franco-Faschismus geprägt sind. Auch in Spanien sind die Rechtsradikalen der VOX-Partei auf dem Vormarsch. In den Regionen Castilla y León, Comunidad Valenciana, Murcia, Aragón y Extremadura waren sie bis vor kurzem an der Regierung beteiligt, die teilweise, wie zum Beispiel die Comunidad Valenciana Hochburgen der sozialistischen Partei waren. Einmal an der Regierung geht VOX gegen alles vor, was sich der Aufklärung der faschistischen Vergangenheit verschrieben hat. Das gibt uns einen Vorgeschmack auf das, was uns in Kürze in Sachsen, Thüringen und Brandenburg erwarten kann, wenn die AfD dort nicht nur stärkste Partei, sondern auch an der Regierung beteiligt wird.

Beim Versuch, der Frage meines Freundes auf den Grund zu gehen, muss ich ein wenig ausholen. Als die Menschen am 9. Oktober 1989 in Leipzig zu Zehntausenden auf die Straße gingen, wussten sie, dass sie ihr Leben für eine Idee aufs Spiel setzten. Damals hoffte ich, dass dieser zivilgesellschaftliche Aufstand gegen einen autoritären Staat eine Antwort auf die Frage von Walter Jens bereithielt: „Wie gelangt das Streben nach Glück, ohne dessen messianischen Vorschein kein Jammertag ertragbar wäre, zu der Entschlossenheit, eine gewaltige Veränderung zu wagen?“ Doch dann überschlugen sich die Ereignisse, und nur wenige Monate später war die Revolte der Straße zu einer „Rank-Xerox-Revolution“ verkommen, die „Schnelligkeit nur in einem beweist: die BRD-Verhältnisse zu kopieren“, wie damals Ute Scheub in einem TAZ-Kommentar schrieb.

Ende 1989 machte ich mich auf den Weg in die sächsische Provinz nach Zwickau. Ich wollte die Stimmung nach der Grenzöffnung der DDR unmittelbar selbst erkunden und überlegte, einen Dokumentarfilm zu drehen. Stimmungen erfährt man gut bei Kneipengesprächen. Das Wirtshaus „zum Uhu“ in der Zwickauer Bahnhofstraße verkaufte frisch gezapftes „Wernesgrüner Pilsener“. Vor dem Eingang wartete keine Schlange, um einen Platz zugewiesen zu bekommen. Ich steuerte auf eine freie Lücke an der Theke zu und hörte dem Gespräch einiger tätowierter Jungmänner zu. Sie unterhielten sich über „Fidschis“, wie die Vietnames:innen, die als Vertragsarbeiter:innen in die DDR gekommen waren, verächtlich genannt wurden. Vom „Fidschi-Aufklatschen“ war die Rede. Allmählich dämmerte mir, dass ich Zeuge einer Verabredung wurde: Sie planten, einigen jungen Vietnames:innen vor einer Disco aufzulauern und sie dann windelweich zu verprügeln. Ich unterdrückte meinen Impuls, mich einzumischen. Ich hätte körperlich keine Chance gehabt. Später auf dem Nachhauseweg brüllte ein betrunkener Jugendlicher, der von zwei anderen festgehalten wurde, hinter mir her: „Jude, Kommunist! Du Scheiß-Jude, du Kommunistenschwein, komm her, ich mach dich kaputt!“ So dröhnte es in meinen Ohren. Ich musste mich zwingen, nicht loszulaufen, sondern gemächlich meinen Weg fortzusetzen, als ob nichts wäre. Noch Minuten und Häuserecken weiter hallte „Jude!“ hinter mir her.

„Der Faschismus ist in diesem Land so wenig wie bei uns jemals eindeutig aufgearbeitet worden“, notierte ich in mein Notizbuch. Wie war das möglich, wo es doch Bücher aus der DDR waren, die mich über die Karrieren ehemaliger Nazis in der BRD aufgeklärt hatten?

Ich musste lernen, dass der Anti-Faschismus in der DDR ein von oben, von der allmächtigen Einheitspartei verordneter Antifaschismus war und als ideologische Waffe gegen den „Westen“ eingesetzt wurde. Damit verlor er seine Überzeugungskraft und machte sich fragwürdig in den Augen vieler DDR-Bürger:innen. Gleichzeitig durften sie sich durch ihren Staat von der Vergangenheitsbewältigung entlastet fühlen. Die DDR spielte ihren Bürger:innen die Illusion vor, in einem Land ohne Täter zu leben. Wo es keine Täter gab, musste sich niemand für Taten verantworten.

Mit der Überwindung des Staates DDR wurde auch der zur Staatsdoktrin, zu einem staatlichen Grundsatz erhobene Anti-Faschismus auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt. Und das in atemberaubender Geschwindigkeit. Mit der denkwürdigen Grenzöffnung am 9. November 1989 begann ein Krieg um Zeit, den der real existierende Kapitalismus gewann. Innerhalb weniger Wochen nahm ihn praktisch die gesamte Bevölkerung der DDR in unmittelbaren Augenschein. „Die Flut der sinnlichen Reize, Eindrücke und Bilder hat die Menschen apathisch gemacht, ihnen ihre alten Tagträume genommen und die Köpfe freigemacht für die Propagandarhythmen des kapitalistischen Westens“, schrieb ich auf. Und weiter: „Der Zustand des Augenblicks, die utopische Vorstellung, die Zeit anhalten zu können, um den Diskurs der Macht durch den Diskurs der Entmachteten zu ersetzen, ist so schnell zerronnen wie ein Traum. Die Atempause des Dialogs, des frischen, anarchischen Streitens über die gesellschaftlichen Zielvorstellungen, war viel zu kurz, um sich in den Köpfen der Menschen nachhaltig festsetzen zu können.“ (Unveröffentlichte Notizen 1990)

Susanne T., eine der Protagonistinnen meines Films „Besetzter Traum“ (Besetzter Traum, Dokumentarfilm, 1991) und Aktivistin der ersten Stunde im Zwickauer „Neuen Forum“, konnte sich angesichts der sich überstürzenden Ereignisse kaum noch entscheiden, was zuerst gemacht werden musste: „eine Rede für die Montagsdemo schreiben, eine unabhängige Zeitung gründen oder einen multikulturellen Treffpunkt gegen den zunehmende Rassismus aufbauen.“ (Unveröffentlichte Notizen, a.a.O.)

Ich lernte den Betriebsleiter eines Broilergroßmastbetriebs kennen. Er war ein überzeugter Anhänger der schnellstmöglichen Vereinigung der beiden deutschen Staaten und beschrieb präzise den Spannungsbogen, in dem sich die DDR-Gesellschaft 1990 befand: „Wissen Sie, ich persönlich mag diese Spinner vom ‚Neuen Forum‘. Ich hab’ ja auch einige hier im Betrieb. Die muss es geben, wirklich. Denn ohne sie gäbe es ja keine Idee von einer besseren Zukunft. Doch für mich bleiben die Spinner, denn im Moment sind ganz andere Dinge gefragt. Ich war nach der Grenzöffnung zum ersten Mal drüben. Ich habe mit eigenen Augen euren Wohlstand und Fortschritt gesehen. Für mich gilt seitdem nur eines: So schnell wie möglich denselben Standard hier zu erreichen, und das geht nur durch die Übernahme eures Währungssystems und der freien Marktwirtschaft.“ (Unveröffentlichte Notizen, a.a.O.)

Die revolutionäre Stimmung des Oktobers 1989 schlug um in die Stimmung der Angst vor dem sozialen Absturz. Dieser unerwartete und plötzliche Freiraum, Gedanken heraustreten zu lassen in die Arena des politischen Streits bei absoluter Waffengleichheit, war nach kurzer Zeit wieder verspielt. Es war der Abschied von den Tagträumen einer radikal-demokratischen humanistischen Gesellschaft. Susanne T. sagte, sie persönlich habe natürlich eine Utopie. Das Problem sei, dass all die Begriffe dieser Utopie jahrzehntelang von den alten Machthabern missbraucht worden seien, aus Kunstvollem sei Künstliches geworden. Die Idee von einer humanen und radikal-demokratischen Gesellschaft war aufgebraucht. Die Bürgerinnen und Bürger der DDR fühlten sich missbraucht von einer autoritären Staats- und Gesellschaftspraxis, die diese Idee auf ihr ideologisches Banner geschrieben hatte.

Eine Generation später wählen die Bürgerinnen und Bürger in den Gebieten der ehemaligen DDR mehrheitlich rechts und rechtsradikal. Die Vorgeschichte dazu begann in der DDR und setzte sich in den noch jungen neuen Bundesländern fort. Der aus dem Westen importierte CDU-Politiker Kurt Biedenkopf, der Sachsen von 1990 bis 2002 regierte, verschloss die Augen vor dem Naziproblem und redete es klein.

Kristina W., die in Sachsen aufgewachsen ist und dort die Energiewende vorantreibt, erinnert sich an ihre Schulzeit, in der Mitschüler:innen offen ihre rechtsextreme Gesinnung zeigten und Naziparolen brüllten: „Die sind nicht weg, geben sich heute aber gemäßigter, bringen sich in Vereinen ein.“ (Chrismon, 8/24) Sozialpädagogische Maßnahmen gegen jugendlichen Rechtsradikalismus setzten – soweit in Sachsen vorhanden – in den neunziger Jahren auf die „akzeptierende Jugendarbeit“. Sogenannten „Modernisierungsverlierern“ wurde ein niedrigschwelliges Angebot gemacht, das sie kurzfristig von Straftaten abhalten und längerfristig zum Ausstieg aus der extrem rechten Szene bewegen sollte:„Kerngedanke: Die Jugendlichen durften unwidersprochen so sein, wie sie waren. Und manche waren eben – rechtsextrem.“ (Chrismon, a.a.O.).

Die „akzeptierende Jugendarbeit“, ehemals erdacht als fortschrittlicher Ansatz einer aufsuchenden Jugendarbeit, schaffte unfreiwillig Freiräume, in denen Jugendliche ungehindert rechtsextreme Ideologien und Rituale pflegen und ausbauen konnten. Rechtsradikale Kader und Parteien nutzen diese Bündelung loser Strukturen zur Rekrutierung. Zum erklärten Programm neo-nazistischer Parteien und Bewegungen gehörte die Anwerbung und Anbindung Jugendlicher. Rock-Konzerte mit rechtsradikalen Bands und dazugehörigen Fanzines waren niedrigschwellig angelegt und bauten Hemmschwellen ab. (1)

Die AfD ist mit der Zeit mitgegangen und hat ihr Rekrutierungsprogramm in das Internet verlegt: Auf TikTok ködert sie höchst erfolgreich junge Menschen. Dabei tritt sie bewusst nicht als Partei auf.

Was ist das Besondere an dieser Partei, die sich 2006 als eurokritische Professorenpartei gründete und mittlerweile trotz ihrer nachgewiesenen rechtsradikalen Gesinnung dermaßen Zulauf in den neuen Bundesländern hat?

Ich sehe zwei Faktoren für diese Erfolgsgeschichte: Die europaweit vernetzten intellektuellen Vordenker der „Neuen Rechten“ haben jahrzehntelang auf eine umfassende Wende hingearbeitet: Weg von der liberalen Demokratie und offenen Gesellschaft, hin zu einem autoritären, ethnisch homogenen Staat. Mit dem Anschluss der DDR an die BRD, abgenickt durch Millionen vom westlichen Konsum verblendeter Menschen, sahen sie ihre Chance, mit ihrer rechtsextremen Ideologie eines neuen Autoritarismus Fuß zu fassen.

Der Diskurs der AfD verfängt vor allem auch bei vielen Menschen in den neuen Bundesländern, die eine Generation zuvor volkswirtschaftlich enteignet worden waren. Die persönliche Demütigung, im „falschen Staat“ gelebt und ein „falsches Leben“ geführt zu haben, prägt die Biographien bis heute und setzt sich in den jüngeren Generationen fort. Erneut fühlen die Menschen sich der Übermacht einer Elite ausgesetzt. Das alte Misstrauen gegenüber der früheren Staatspartei SED setzt sich fort in der Ablehnung der bürgerlichen Parteien, die aus dem Westen importiert wurden. Demgegenüber stellt sich der West-Import AfD erfolgreich als Anti-Partei, als Feind der Eliten dar und bemächtigt sich des Argwohns, den viele ostdeutsche Bürger:innen gegenüber den Institutionen haben, die ihnen in den letzten 35 Jahren großenteils übergestülpt worden sind. Mit dem Aufstieg des Neonazis Björn Höcke hat sich der eurokritische, nationalistische Diskurs der ehemaligen, rechten Professorenpartei endgültig in einen offen rechtsextremen bis neofaschistischen gewandelt. Der aus Lünen in NRW stammende Höcke verschiebt planvoll „Die Grenzen des Sagbaren“, so der Soziologe Andreas Kemper. Neonazipostionen, die Höcke früher unter dem Pseudonym „Landolf Ladig“ veröffentlichte, haben nun in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit Gewicht. Höcke will zwar den Öffentlich Rechtlichen Rundfunk abschaffen, kann aber im ARD-Sommerinterview seine kaum noch kaschierte NS-Propaganda vor einem Millionenpublikum ausbreiten.

Weltweit zielt der Faschismus darauf ab, das Vertrauen in Universitäten und etablierte demokratische Medien zu untergraben. Wissenschaftsfeindlichkeit und die Verhöhnung der sogenannten „Lügenpresse“ ziehen sich durch das Parteiprogramm der AfD. Eine unabhängige, vielfältige und unkontrollierte Kunst- und Kulturszene ist ein Garant für Meinungsfreiheit. Deshalb steht sie auf der Abschussliste sämtlicher politischer Bewegungen, die einen autoritären, entdemokratisierten Staat anstreben. Bei einem Sieg der AfD in Sachsen dürfen wir davon ausgehen, dass sämtliche bildungspolitischen und kulturellen Einrichtungen willfährig gemacht oder finanziell ausgetrocknet werden. Eine energiepolitische Wende, wie von der Aktivistin Kristina W. vorangetrieben, wird dann keine Zukunft mehr haben.

Robert Krieg

Aus: graswurzelrevolution 491, September 2024.

(1) Siehe auch Pest A. Lozzi: Akzeptierende Sozialarbeit mit rechten Jugendlichen oder: Faschismus ist kein Jugendproblem auf nadir.org

Externe Referenzen

Quelle
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