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Gesellschaft im Aufbruch?

Editorial, Graswurzelrevolution Nr. 439, Mai 2019

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Aufgrund aktueller Ereignisse haben wir kurzfristig auch einen weiteren Schwerpunkt – zum Thema „Rojava – und das Ende des IS?“ – ins Blatt genommen, was auch dem Glücksfall geschuldet ist, dass „unser Korrespondent“, Dr. med. Michael Wilk, im April 2019 wieder als Arzt in Nordsyrien vor Ort war und einen einzigartigen Bericht für diese GWR geschrieben hat.

Rojava (deutsch: Westkurdistan), das ist der Teil Kurdistans im Norden Syriens, in dem viele Menschen versuchen, eine basisdemokratische Gesellschaft jenseits von Zentralstaat und Diktatur zu organisieren. Wie schwer die Verwirklichung dieser kommunalistischen Utopie gerade in einem durch das Assad-Regime, IS und Patriarchat geprägten Bürgerkriegsland ist, macht auch der neue Dokumentarfilm von GWR-Autor Robert Krieg deutlich. Eine 45minütige Kurzfassung von „Experiment Rojava in Syrien. Eine Gesellschaft im Aufbruch“ hat am 5. Mai 2019 um 23:15 Uhr auf Phoenix Premiere und wird von diesem Fernsehsender am 10. Mai um 2:15 Uhr wiederholt.

Eine Langfassung des Films ist in Arbeit und wird voraussichtlich in der zweiten Jahreshälfte in die Programmkinos kommen.

Im Pressetext zur Filmpremiere heißt es: „Syrien, das ist seit Jahren der Inbegriff von blutigem Bürgerkrieg, IS-Terror und Stellvertreterkrieg der Mächte im Ringen um Einfluss im Mittleren Osten. Aber die notleidende syrische Bevölkerung floh nicht nur nach Europa, viele Menschen fanden auch innerhalb des Landes Zuflucht: im Norden Syriens, in der Region Rojava, an der Grenze zur Türkei. Hier leben Kurden, Araber, Aramäer und Syrer friedlich zusammen, seien es Muslime, Jesiden oder Christen. Oberste Prinzipien sind autonome Selbstverwaltung, Frauenemanzipation, Schutz und Beteiligung von Minderheiten und religiöse Toleranz. Diese Grundsätze sind in einer Art Verfassung, dem sog. Gesellschaftsvertrag, niedergelegt.“

Robert Krieg geht aus der Graswurzelperspektive der Frage nach, ob die Selbstverwaltung und Frauenbefreiung in Rojava auch in der Praxis funktionieren. Wie kann es gelingen, jahrhundertealte Gesellschaftsstrukturen und Geschlechterbeziehungen aufzubrechen, die noch von traditionellen, archaischen Handlungsmustern geprägt sind?

Wie schon bei den Filmen „Newo Ziro – Neue Zeit“ (2012) und „Desert Inspiration“ (2015) lässt der Soziologe vor allem „einfache Leute“ zu Wort kommen und schickt uns mit Hilfe der selbst gemachten Musik seiner Protagonist*innen auf eine kulturell und atmosphärisch bewegende Reise.

Diesmal stehen Menschen, die das sozialpolitische Experiment der Demokratie von unten tragen und voranbringen wollen, im Mittelpunkt. In der westkurdischen Kleinstadt Amûdê, die hauptsächlich von der Landwirtschaft lebt, begleiten der Filmemacher und sein Übersetzer Sitzungen von Stadtteilkomitees, besuchen eine Textilmanufaktur und eine Ladenkooperative. Besonders aktiv sind die selbstbewussten Kurdinnen, die ihre neu gewonnenen Rechte nutzen, aber auch immer noch unter patriarchalischer und häuslicher Gewalt zu leiden haben. Die Frauen bringen sich politisch und unentgeltlich in die kommunale Selbstverwaltung ein. Andere Kurdinnen machen sich wirtschaftlich unabhängig durch selbst geschaffene Arbeitsplätze: „Wir stehen unsere Frau gegen alle Anfeindungen.“ Die Interviewten betonen, dass der Schutz vor dem IS und die Verwirklichung von Freiheit, Sicherheit und Stabilität zu den wichtigsten Aufgaben der basisdemokratischen Selbstverwaltung zählen. „Direkte Demokratie und Zentralismus passen nicht zusammen. Basisdemokratie braucht Raum für Vielfalt“, fasst ein älterer Dorfbewohner seine Position zusammen. Noch stehe vieles am Anfang und müsse erst erkämpft werden, aber auch viele Männer unterstützen mittlerweile die Frauen und tragen so zum Aufbrechen patriarchalischer Denkweisen bei, „um gemeinsam dem gesellschaftspolitischen Ideal der Basisdemokratie näherzukommen“.

Probleme und Widersprüchlichkeiten werden in diesem Film nicht ausgeklammert. Der Kriegsdienstzwang wird leider nur kurz angedeutet, als ein kurdischer Student erzählt, dass er sowohl für die syrische Armee als auch für die kurdischen YPG-Einheiten seine „Wehrpflicht“ leisten soll.

Der auch in Rojava weit verbreitete Personenkult um den inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan wird in diesem Film nicht thematisiert.

Das hätte angesichts der Kürze des Films auch den Rahmen gesprengt. Ich freue mich auf die Langfassung dieses gelungenen Dokumentarfilms, den ich Euch hiermit ans Herz legen möchte.

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