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Kuba 1991. Notizen

Ich schaue aus dem Fenster und blicke in die Tiefe der Landschaft, durchbrochen von modernen Siedlungen und vereinzelten Fabrikanlagen. Am Horizont ragen die Radiomasten des Flughafens von Habana empor. Keine halbe Stunde Fahrtzeit trennen mich von diesem Ort. Doch er erscheint unwirklich weit, dieses Verbindungsstück zu einer anderen Welt, die zehn Flugstunden entfernt ihren eigenen Wegen nachgeht.

Ich schaue in den Himmel und sehe die Wolken vorüberfliegen, ewige Boten des Wandels, zu keiner Welt dazugehörig und frei von den Koordinaten Zeit und Raum. Keine gleicht der anderen, sie bewegen sich im ständigen Fluss der Veränderung. Fast scheint es, als ob der Himmel sprechen will. Was will er mir sagen ?

Ein Spätnachmittag auf dem Friedhof Colon. Unter den wenigen Besuchern ein hellhäutiger, blonder Mitteleuropäer, mit blauen Augen. Er sucht den Grabstein einer wundertätigen Frau, die im Kindbett verstorben ist. Das eigenartige Verhalten einer jungen Frau in der Nähe eines Grabes erregt seine Aufmerksamkeit. Beim Hinzutreten bemerkt er um das Grab herum aufgebaute Devotionalien und Geschenke. Im gleichen Augenblick weiss er, dass er das Grab gefunden hat. Die junge Frau hat ungewöhnlich schöne Augen und dichtes schwarzes Haar. Sie lächelt und winkt den Mann heran. Es entspinnt sich ein kurzes Gespräch über die Magie des Ortes und die Gefahren, die auf einem Friedhof lauern. Verstört und angezogen zugleich verlässt der Mann nach wenigen Minuten das Grab und das Mädchen. Fast am Ausgang des Friedhofs, die Sonne geht gerade unter, hört er hinter sich ein Keuchen und schnelle Schritte. Wortlos überreicht ihm ein kleiner Junge einen Zettel und läuft davon.

Einen Tag später steht der Mann vor der angegebenen Adresse und klopft nach kurzem Zögern an die angelehnte Tür. Es erscheint ein anderes Mädchen, das zu seiner Überraschung bestätigt, die angegebene Person zu sein. Verwirrt will der Mann davoneilen, als ihn eine Stimme aus dem Innern der Wohnung festhält. Hinter dem Mädchen taucht die junge Frau vom Friedhof auf und bittet ihn lachend einzutreten.

Der Mann hat nur noch sechs Tage bis zu seinem Abflug. Es folgen Nächte voller Leidenschaft und Hitze in öffentlichen Parkanlagen und am Strand. Die Frau weigert sich, den Mann in sein Hotel oder in ein Restaurant zu begleiten. Sie führt ihn ein in die Welt, die ihr vertraut ist. Der Mann vergisst, seinen Geschäften am Tage nachzugehen. Die wilde Besitznahme der Frau hält ihn vollständig gefangen. Ihr Gebet am Grab der Wundertätigen ist erhört worden. Ihr ist der blonde, hellhäutige Mitteleuropäer mit blauen Augen geschickt worden, der der Vater ihres Kindes werden soll. Sie will das Kind, und sie erhält es in einem Stundenhotel. Der Ort der Liebe für junge kubanische Paare, die keine eigene Wohnung haben. Später in einer kleinen Bar hoch über der nächtlichen Brandung am Malecon offenbart sie ihm, dass er sie schwanger gemacht hat. Sie hat den Ort und die Stunde genau vorausberechnet. Es ist die letzte Nacht vor seinem Abflug.

Das ist der Plot zu einem Film, der nie gedreht worden ist, den das Leben geschrieben hat. Was wollte die junge Frau? Ein Stück besitzen aus einer anderen Welt, an der sie nicht teilhaben kann? Ist das Glück, das sie suchte, nur denkbar in dieser anderen Welt? Was wollte der Mann? Die Zeit anhalten? Die Frau besitzen, um einzudringen in die Magie, die Verzauberung des Ortes?

Am 8. Januar 1959 zieht Fidel Castro mit seinen Kämpfern im Triumphzug in die Hauptstadt Habana ein. Die Revolution gegen das verhasste Batistaregime und die Marionetten des nordamerikanischen Kapitals hat gesiegt. Ein zweites Mal hat sich das kubanische Volk aus seiner Abhängigkeit befreit. Am Horizont der Geschichte lässt sich noch nicht ausmachen, dass bald der Grundstein für eine neue Abhängigkeit gelegt werden wird.

Ein Bild geht um die Welt. Ernesto Che Guevara, das Symbol einer rebellischen Jugend, die im Handstreich verkrustete Herrschaftsmechanismen überrennen will. In Europa beginnt man sich für die Befreiungskämpfe aus der kolonialen Abhängigkeit zu begeistern. Vorbilder für den eigenen Kampf gegen den Paternalismus, der die Geschichte zu fälschen trachtet, werden gesucht und gefunden. Dokumentaristen aus aller Welt reisen nach Kuba, um diese neue lateinamerikanische Hoffnung bei ihren ersten Schritten in die Selbständigkeit zu begleiten.

Die Aufrührer im Hinterhof der Vereinigten Staaten werden bestraft. Das verhängte Handelsembargo wird von den meisten lateinamerikanischen und europäischen Staaten befolgt. Unaufhaltsam treibt Kuba in die Arme einer neuen Abhängigkeit, wird zum Spielball des Ost-West-Konflikts, dieses einzigartigen multimedialen Blendwerks, mit dem es über Jahrzehnte gelingt, die Menschen abzulenken von der Realität: die kahlschlagartige Ausplünderung von natürlichen Ressourcen und menschlicher Arbeitskraft in der südlichen Hemisphäre der Erdkugel.

Über Jahrzehnte bemühte sich Kuba, ein neues Bild vom Menschen zu erschaffen, die soziale Gerechtigkeit für alle und das brüderliche Miteinander eines ganzen Volkes. Die sozialen Errungenschaften sind gewaltig. Doch eine andere Forderung der Pariser Kommunarden verhallte ungehört. Der Ruf nach Freiheit verebbt im Sand eines gleichgeschalteten Partei- und Machtapparates.

Ist nach über dreissig Jahren unermüdlicher Anstrengung die Revolution des kubanischen Volkes in ihrem Bestand gefährdet? Ist die Geduld der Kubaner, Symbol und Hoffnungsträger für einen ganzen Kontinent zu sein, grenzenlos? Lassen sich die Ideale der Humanität mit den Unzulänglichkeiten des Alltags paaren? Brauchen menschliche Schwächen ihren Freiraum, ohne den die Utopie einer humaneren Welt nicht denkbar ist? Kann der Endpunkt dieser Utopie die Opcion Zero sein, der Vorschlag Fidel Castros, sich zur Not auf das Leben der Indios im vorkolonialen Zeitalter einrichten zu wollen? In den Strassen Habanas ist ein neuer Slogan aufgetaucht: die Armut lässt sich ertragen, unehrenhaft zu leben niemals!

Währenddessen fällt die so häufig zitierte Ehre den Gespenstern der neuen Würdelosigkeit anheim. Im Schatten des Turms, des gigantischen Baus der ehemaligen sowjetischen Botschaft gedeiht ein Geschäft, das die kubanische Wirtschaft retten soll. Eine absurde Gleichzeitigkeit des Ortes: auf dem Gelände der einstigen Weltmacht, von deren Wohl und Wehe die Geschicke der Kubaner zu einem Gutteil abhingen, regiert der Dollar: Im Diplo-Tienda kann man für Dollars alles erstehen, was die Warenwelt bereithält. Dem durchschnittlichen Kubaner, der keinen reichen Onkel in den Vereinigten Staaten hat und keinen illegalen Geschäften nachgeht, bleibt diese Welt hermetisch verriegelt. Wachsame Augen an den Eingängen sortieren alles aus, was nicht ins Bild passt. In Varadero, dem berühmtesten Badestrand Kubas, gibt es bereits eine Zone, in der nur mit Dollars bezahlt werden kann. In der Marina Hemingway – oh Hemingway! –, werden rauschende Feste zu harten Dollarkonditionen gefeiert.

Auf dem Schwarzmarkt verfällt der Pesowert ins Bodenlos. Der Monatslohn eines Tankwarts entspricht einem Gegenwert von weniger als 20 Dollar. Die garantierte Mindestversorgung mit lebensnotwendigen Gütern funktioniert nur noch unzureichend. Am Wochenende fahren die Menschen scharenweise aufs Land, um sich mit Lebensmitteln zu versorgen, die über Bezugsscheine nicht mehr zu bekommen sind. Das öffentliche Verkehrssystem steht kurz vor dem Kollaps. Endlose Schlangen vor den Haltestellen bis in die tiefe Nacht hinein. Währenddessen kümmert sich ein 15köpfiges Team der besten Ärzte aus ganz Kuba um das Leben des schwerverletzten Soldaten Rolando Quintosa, dessen drei Kameraden bei einem Feuerüberfall durch Exilkubaner ermordet worden sind. Die Ungleichzeitigkeit des Handelns. Wird die Würde des Staates über die Würde des Menschen gesetzt?

In der Wohnung eines Freundes an einer der belebtesten Verkehrsadern Habanas ist es erschreckend still geworden. Vereinzelte Geräusche werden plötzlich schmerzhaft deutlich. Viele Menschen ziehen es vor, nicht mehr aus dem Haus zu gehen und einfach abzuwarten. Eine seltsame Teilnahmslosigkeit und Lähmung beherrscht die Menschen. Buchstäblich und materiell leben die Kubaner aus der Reserve. Was wird passieren, wenn die materiellen und geistigen Reserven aufgebraucht sind?

Ich habe das Gefühl am Rand eines Vulkans zu sitzen. Vor mir entfaltet sich ein Zerrbild mit doppeltem Zungenschlag. Die Diplowelt der Dollarläden, Dollarwerkstätten, Dollar-Hotels, Dollar-Mietwagen und Dollarstrände. Unter Höchstdruck wird die Tourismusbranche zum wichtigsten Wirtschaftsfaktor des Landes katapultiert. Doch die Betonköpfe der Ökonomen, in deren Zahlenspielen Daten über die psychosoziale Befindlichkeit der Bevölkerung keine Rolle spielen, haben die Rechnung ohne den Wirt gemacht: Gefrässig wuchert der Krebs einer parasitär anwachsenden Grauzone krimineller Energie, die die mühsam aufgebauten Werte einer humaneren Gesellschaft auf den Kopf stellt.

Diplo ist das Zauberwort, die Formel für den Eintritt in eine andere Welt, die scheinbar ungerührt neben der kubanischen Alltagsrealität existiert. Der Schritt hinein ist mühelos und flüchtig wie ein Atemzug, und dennoch sind diese beiden Welten Lichtjahre voneinander entfernt. Ich bewege mich im Grenzgebiet eines perfekt funktionierenden Apartheid-Systems, das keine Fragen stellt und auch nicht gefragt worden will. Nicht die Offensichtlichkeit der Hautfarbe trennt die Menschen voneinander, sondern Farbe, Druck und Herkunftsland eines Zahlungsmittels. In seiner langen Geschichte als Tauschwert, als Signifikant für den Tausch von Waren, gelangt das Geld gleichsam zu sich selbst zurück: Es ist nicht mehr nur die Bezeichnung für einen Wert, sondern selbst Signifikat, Wert an sich, die Metamorphose des Glücks, das der Mensch sucht und in der Verheissung des Konsums zu erfüllen trachtet. Die Metamorphose vom äusseren zum inneren Wert.

Die Insulaner des Bismarkarchipels tauschten untereinander wertlose Muscheln. Der innere Wert dieses für einen in der Warenwelt sozialisierten Menschen wert- und damit sinnlosen Tauschakts lag nicht im eigentlichen Tauschakt, sondern im Tauschmittel selbst: die Muscheln waren Symbol für Friedfertigkeit, gegenseitige Akzeptanz und Respektierung der Rechte des anderen.

In ihrer ewigen Spirale holt uns die Menschheitsgeschichte wieder ein. Das Geld als Tauschwert kehrt zu seiner ursprünglichen Mystifikation zurück: In der Welt der Diplos, die sich für die Kubaner als Alternative zu dem in 30 Jahren Revolution versprochenen Glück repräsentiert, erscheint der Dollar als der Schlüssel zu einer unermesslichen Warenwelt, die den grenzenlosen Konsum als die endgültige Erfüllung des menschlichen Seins propagiert.

Die hermetische Abrieglung der Diplo-Welt von der kubanischen Alltagsrealität, die die Kubaner vor dem schlechten Einfluss einer inhumanen Werteordnung schützen soll, erhöht geradezu ihren magischen Einfluss, der bisher nur einen kleinen Ausschnitt der kubanischen Gesellschaft erfasst hat. Diese Grauzone menschlicher Erniedrigung im Milieu von Prostitution, Schwarzmarkt, Schieberei und illegalen Geldgeschäften, von der politischen Macht offensichtlich geduldet und für den durchschnittlichen Kubaner der einzige Weg zur Teilhabe an der Welt des Konsums, löst in den Köpfen der Menschen einen Widerspruch aus, der die in 30 Jahren mühsam aufgebauten Werte vor die Zerreissprobe stellt. Wann werden diese Wertvorstellungen von einer humaneren Gesellschaftsordnung aufgebraucht sein angesichts einer immer offensichtlicher werdenden Mangelwirtschaft, die nicht einmal mehr die Grundbedürfnisse ausreichend versorgen kann und gleichzeitig schweigend akzeptiert, dass Ausländern, Touristen und einer kleinen Clique von Gelegenheitsgewinnlern alle Türen offenstehen zum zügellosen Konsum. Der Gerechtigkeitssinn wird in den Grundfesten erschüttert. Wie kann es sein, dass ein Ausländer, der sich nur zeitweilig in Kuba aufhält, alle möglichen Vorteile hat, die einem Kubaner, der hier ein Leben lang lebt, verschlossen bleiben?

Ich bin nach Kuba gekommen um an der Internationalen Film- und Fernsehschule ein Seminar über die Geschichte des Dokumentarfilms durchzuführen. Ich spreche über Joris Ivens und zeige seine Filme. Vor über dreissig Jahren reiste Joris Ivens mit einer Gruppe junger kubanischer Dokumentaristen durchs Land, die später alle wesentlich am Aufbau des unabhängigen kubanischen Kinos mitwirken sollten. Einer von Ihnen, Jorge Fraga, gehört heute der Leitung der Internationalen Film- und Fernsehschule an. Unter der Anleitung von Joris Ivens machten sie ihre ersten Schritte als Dokumentarfilmer. In seiner holländischen Heimat aufgewachsen, kannte Joris Ivens die Bedeutung, die der Himmel für die Landschaft hat. Er lehrte seine kubanischen Schüler die Beziehung zu erkennen, die zwischen der kubanischen Landschaft und dem Himmel über Kuba besteht. Ihre Filme waren voller revolutionärem Elan. Man spürt die Begeisterung und die Suche nach neuen Ausdrucksformen, die die bisherige Sichtweise der Welt filmisch durchbrechen sollte. Die Themen waren der gemeinsame Aufbau des Landes und seine Verteidigung gegen konterrevolutionäre Kräfte.

Als mir vor über einem Jahr die angerosteten Filmbüchsen aus dem Archiv des Nationalen Kubanischen Filminstituts geholt wurden und ich auf der Moviola die Bilder Revue passieren liess, entstand zum ersten Mal die Idee, einen Film über das Kuba von heute zu drehen. Erneut die Spur aufzunehmen und einen Zeitsprung zu wagen. Die Zeitmaschine vorwärts und rückwärts laufen zu lassen, um den Codes der Bilder und Töne ihr Gedächtnis zu entlocken, das uns zwischen den Fingern zu zerrinnen droht.

In meinem Seminar sitzen 60 Studenten aus 30 Nationen Lateinamerikas, Afrikas und Asiens. Sie sind die cineastische Hoffnung in einer Welt, die die herrschende Weltkommunikationssordnung zu einem sprachlosen Dorf gemacht hat. Was heisst das, eine neue cineastische Sprache zu entwickeln in der Welt der Plastikkommunikation? Ich bin Chauffeur und best boy bei den Dreharbeiten zu einem Kurzspielfilm. Fünf junge Absolventen der Filmschule aus fünf verschiedenen Nationen realisieren gemeinsam das Projekt der kubanischen Autorin und Regisseurin. Das Konzept lehnt sich eng an das Kino der Nouvelle Vague an. Mit einfachsten Mitteln wird eine Geschichte aus der kubanischen Alltagsrealität einer Gruppe Jugendlicher erzählt.

Die vier Hauptfiguren sind zwei Mädchen und zwei Jungen, alle ca. 16 Jahre alt. Raul trifft zufällig seine heimliche Liebe Arianna wieder. Arianna arbeitet zusammen mit Magda in einer Näherei. Pablo, der Freund von Magda, hat ein Auge auf Arianna geworfen. Raul wirbt um Arianna, doch Arianna interessiert sich mehr für Pablo. Eine erste Verabredung scheitert am Zuspätkommen Pablos. Pablo und Raul sind Nachbarn. Der Versuch Pablos, von Raul die Adresse Ariannas zu bekommen, wird durch die Eifersucht Rauls verhindert. Magda ist ebensowenig bereit, Arianna dabei zu helfen, Pablo wiederzusehen. Pablo und Magda streiten sich über Arianna, Raul möchte mit Arianna gehen. Arianna sagt, sie habe einen neuen Freund, Raul macht Arianna eine Szene. Pablo trifft Arianna erneut auf dem Nachhauseweg. Vergeblich versuchen sie den gemeinsamen Faden wiederaufzunehmen. Ein Auto hält. Der Fahrer ist ein Nachbar Ariannas. Arianna steigt ein und fährt davon. Pablo sitzt verlassen an einem Fluss.

Was will uns die junge kubanische Autorin und Regisseurin mit dieser Geschichte erzählen?

Ich fahre durch das nächtliche Habana. Die Strassen sind verdunkelt und wirken wie ausgestorben. Das Ausbleiben der Erdöl- und Getreidelieferungen aus der ehemaligen Sowjetunion hat das Land in die tiefste Versorgungskrise seit seiner Unabhängigkeit gestürzt. Der Strom wird ausschliesslich aus Erdöl gewonnen. Stundenlange Energiesperren gehören inzwischen zum Alltag.

Um so unwirklicher erscheint eine Szene in der Altstadt: Inmitten der Dunkelheit blendet mich ein riesiger gläserner Sarkophag, der die ganze Nacht hindurch gleissend hell erleuchtet wird. Das Licht bricht sich und reflektiert in der weissen Farbe des aufgebahrten Leichnams. Langsam gewöhnen sich die Augen an die ungewohnte Helligkeit und beginnen die Umrisse einer Motoryacht abzutasten. Ich frage mich, ob – wenn die Gelegenheit dazu bestanden hätte – Che genauso einbalsamiert worden wäre wie dieses Schiff, die legendäre Granma, das Großmütterchen der kubanischen Revolution. Unwillkürlich muss ich an den Streit um Lenins Leiche denken, und dass ich es immer verpasst habe, sie einmal persönlich in Augenschein zunehmen – jetzt ist es zu spät – und an eine Bemerkung Andre Bazins, den intellektuellen Vordenkers der Nouvelle Vague: "Eine Psychoanalyse der bildenden Künste müsste die Praxis des Einbalsamierens als wesentliche Ursache ihrer Genese mit berücksichtigen."

Die eigentliche Bedeutung des Films liegt nicht so sehr in seiner Ästhetik begründet, sondern in der Wirkung, die er erzielt. Fidel Castro und seine Gefährten hatten ursprünglich geplant, ihre Expedition von Anfang an, also auch bereits während der Überfahrt mit der Granma, mit einer Filmkamera zu dokumentieren. Die Kameraausrüstung musste jedoch wieder verkauft werden, um weitere Gewehre und Munition bezahlen zu können.

Andre Bazin hat in seinen filmtheoretischen Überlegungen darauf hingewiesen, dass das menschliche Sein ganz allgemein dem Verlangen unterliegt, die Momente der Existenz, die sich mit der Vergänglichkeit der Zeit verflüchtigen, auf irgendeine Art und Weise festzuhalten. Dahinter verbirgt sich die Urangst vor der Vergänglichkeit der eigenen Existenz. Die Entstehung der bildenden Künste ist untrennbar mit dem Wunsch verbunden, sich der eigenen Existenz zu versichern, die Zeit einzubalsamieren, sie vor dem Verfall zu bewahren. Sollte die Geschichte des Films als Geschichte der Psychologie geschrieben werden? Andre Bazin: "Wenn die Geschichte der bildenden Künste nicht nur die ihrer Ästhetik, sondern vor allem die ihrer Psychologie ist, dann ist sie wesentlich die Geschichte der Ähnlichkeit, oder wenn man so will, die Geschichte des Realismus."

Die kubanischen Revolutionäre waren sich der Wirkung des Mediums Film durchaus bewusst. Die erste kulturelle Einrichtung, die nach dem Triumph der Revolution gegründet wurde, war das Nationale Filminstitut. Doch ebenso wie das Abbild bleibt auch die Wirkung ein Ausdruck ihrer Zeit. Und letztendlich zeigt sich, dass das Abbild die Wirkung überleben wird, d. h., dass nur noch das Abbild übrigbleibt. Wenn die Mythen ihre Seele verlieren, werden sie so hohl und leer wie ein Steinkrug, aus dem das Wasser verschüttet worden ist. Im kalten Glanz der Granma beginne ich zu begreifen, wie eine Revolution sich selbst überleben kann. Wie jedes Volk wehrt sich der Kubaner mit seinem Witz: Im Jahr 2000 fragt der alte Herrgott Petrus, wie es auf der Erde aussieht und was die politischen Führer machen. – Oh, Gorbartschow ist friedlich in seinem Bett gestorben und Boris Jelzin ist betrunken bei einer Schlägerei ums Leben gekommen. – Und Fidel Castro ? – Ach so, der,... ja äh,... also der lebt noch, aber der muss eigentlich auch jeden Tag sterben ! –

Die Ethik der kubanischen Revolutionäre liegt begraben unter einem Haufen alter Ikonen und droht darunter zu ersticken. Ist es das, was mir der Film von Ana Laura zeigen will ? Eine einfache Geschichte aus dem kubanischen Alltag erzählen, um sich der Realität des Seins zu versichern? Benutzt sie die cinematographische Sprache Eric Rohmers, um das Leben, so wie es ist, zu dechiffrieren, sich des Seins im Hier und Jetzt zu versichern und nicht den Phantasmen einer Zukunft nachzujagen, die an den Hülsen der Vergangenheit zu zerbrechen droht? Will sie eine Realität beschreiben fern von den politischen Slogans und Appellen, fern von den unilateralen Codes der politischen Macht, die die gesamte öffentliche und damit auch die cinematographische Sprache beherrschen und die Alltagsrealität bis in ihren letzten Zipfel durchdrungen haben? Die den Kubaner von der Kinderkrippe bis zum Sterbebett begleiten und als Konnotation des Lebens ihren Wert verloren haben? Ist es ein purer Zufall oder ein makabrer Regieeinfall, dass die beiden Hauptausgänge, um die Insel zu verlassen, auf Steinwurfweite voneinander entfernt liegen, – das grösste Beerdigungsinstitut Habanas und die Interessen-vertretung der Vereinigten Staaten? Ist dieser Alltag, dieser Augenblick im Sein, nicht ebenso wertvoll und wichtig wie der grosse politische Entwurf, der nichts von seiner Gültigkeit verloren hat, dessen Abbilder aber ein Eigenleben führen, losgelöst und fern von der Alltagsrealität?

Ist die Unsterblichkeit Ches mithin darauf zurückzuführen, dass sein Abbild und seine Wirkung identisch geblieben sind? Da sich das Abbild der Ikonographie der Macht entzogen hat?
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