Startseite – Filme – Ein Dorf in Europa – Texte –

Zum Film

Eben ist der leuchtend blaue Bus aus Rom eingetroffen. Einige wenige Fahrgäste mit Einkaufstüten und Taschen steigen aus, streben eilig in verschiedene Richtungen davon. Die Sonne steht im Zenith und hüllt den Platz in gleißendes Licht. Der Besitzer des Zeitungskiosks macht sich an den Rolläden zu schaffen. Einer nach dem anderen fallen sie rasselnd herunter. In der Bar Sportivo stehen ein paar Männer und trinken einen Campari Soda. Der Barmann wischt sich den Schweiß von der Stirn. Die Hitze in dem Fertigbau aus Aluminium und Plastik ist unerträglich. Die Gäste verabschieden sich. Im kleinen Park gegenüber hängen noch unentschlossenen ein paar jugendliche Müßiggänger herum. Von seinem Marmorsockel schaut Johannes XXIII milde lächelnd auf sie herab. Der Springbrunnen unter den frisch angepflanzten Bäumen spendet etwas Kühle. Die Kirche am anderen Platzende liegt steinern da. Aus dem Eingang zum angrenzenden Hof des Pfarrhauses tritt Don Italo, wirft einen prüfenden Blick herüber und verschwindet dann in einer Seitenstraße.

Auf der Treppe vor dem Bürgermeisteramt verabschieden sich lautstark einige Herren mit schweinsledernen Aktentaschen. Autotüren schlagen zu und Motoren werden angelassen, dann liegt der Platz leer und verlassen da. Eine tiefe Stille breitet sich aus. Ich brauche nicht auf die Uhr zu schauen. Es ist Mezzogiorno. Höchste Zeit, zum Mittagessen zu gehen.
Genau vier Stunden später wird die Piazza dieses kleinen Ortes im Herzen Latiums zu neuem Leben erwachen. So wie es seit Jahrhunderten der Fall ist.

Bis zum Ende des zweiten Weltkrieges wußte kaum jemand in Rom, wo das nur gut 40 km entfernte Mazzano Romano liegt. Damals verirrten sich höchstens ein paar fliegende Händler auf die schmale Provinzstraße, die nördlich von Rom auf dem Weg nach Viterbo von der Via Cassia rechts abzweigt. Sie verläuft einige Kilometer über eine weite Hochebene mit wogenden Weizenfeldern, aus der ein einzelner, ungewöhnlich hoher Berg herausragt. Der Monte Soratte ist schon seit dem Altertum ein mythischer Ort. Goethe erwähnt ihn in seinen Aufzeichnungen. Im zweiten Weltkrieg war dort das deutsche Oberkommando stationiert. Bei klarer Sicht sieht man im Hintergrund den Gebirgszug der Abruzzen glänzen. Eine Wegstrecke weiter zweigt von dieser Straße ein Weg ins Tal hinab. An der steilen Straße warnt ein Schild mehrachsige Lastwagen und Busse vor der Weiterfahrt. Es besteht keine Möglichkeit mehr zu wenden, da wo die Straße auf den engen Platz am Fuße des mittelalterlichen Ortskerns mündet. Die Häuserzeile zur Linken hört plötzlich auf und eröffnet den Blick ins grün bewaldete Tal. Ins Blickfeld schiebt sich der Borgo auf einem Kegel aus Tuff, der in das Tal der Treia hineinragt. Jedesmal, wenn ich aus Deutschland komme, überrascht und überwältigt mich dieser Anblick wie beim ersten Mal.

Meine Freundin Leonora Mauro empfängt mich mit einem duftenden Espresso. Sie ist gebürtige Polin. Im zweiten Weltkrieg wurde sie als Sechzehnjährige von den Deutschen nach Thüringen zur Zwangsarbeit verschleppt. In einer Glasfabrik mußte sie Ampullen und Vitriolen herstellen. Hier lernte sie Antonio Mauro kennen, einen italienischen Kriegsgefangenen, den die Deutschen nach dem Bruch mit Italien als Zwangsarbeiter im Eisenbahnbau einsetzten. Nach dem Krieg nahm Antonio sie mit in seine Heimat Apulien. Leonoras Dorf in Polen war zerstört, ihre Eltern gestorben, ihre Brüder vermisst. Die erste Zeit in Italien verständigten sich Leonora und Antonio noch auf deutsch miteinander. Leonora arbeitete in der staatlichen Tabakfabrik. Das Geld, das sie nach Hause brachte und das, was Antonio auf dem Fischerboot seines Onkels verdienen konnte, reichte nicht. Er machte sich wie viele andere Anfang der 50er Jahre aus dem Süden Italiens in die Gegend von Rom auf. Hier fand er Arbeit im Steinbruch und als Bauarbeiter. Leonora zog mit den Kindern nach. Im alten Borgo von Mazzano fanden sie billigen Wohnraum. Einige Jahre lang hat Leonora auf einem mit Ersparnissen erworbenen Stück Acker bei Mazzano Tabak in eigener Regie angebaut. Die Abnahme durch die staatliche Tabakindustrie war garantiert. Doch irgendwann lohnte es sich nicht mehr.

Als ich in den 70er Jahren zum ersten Mal durch die Gassen des Borgo wanderte, haben mich Leonora und Antonio in der Sprache ihrer Verfolger angesprochen. Für die beiden war sie trotz allem die gemeinsame Sprache ihrer Jugend und ihrer Liebe geblieben.

Kriegszeit, ein italienisch-deutsches Kapitel

1943 kam es zu zwei denkwürdigen Ereignissen, die das Verhältnis zu den Deutschen nachhaltig mitbestimmten. Santina und Jolanda erinnern sich noch sehr genau daran. Jolanda kann man trotz ihres Alters noch immer in der Bar Falco an der kleinen Piazza am Fuß des Borgos antreffen. Hier bedient ihre Tochter Sonja die Gäste und bis vor kurzem arbeitete auch ihr Schwiegersohn Nando hier, der an den Spätfolgen seiner Arbeit als Autolackierer gestorben ist. Jolanda holt einen schweren Schlüssel hinter der Bartheke hervor und schließt mir die frisch renovierte Kapelle auf, die der Bar schräg gegenüber liegt. An der Tür sind die Messen in italienischer und polnischer Sprache angezeigt. Jolanda hat einige Jahre lang in der Bar Geld gesammelt, um die Restaurationsarbeiten zu ermöglichen. Dabei sind Fresken aus dem 16. Jahrhundert entdeckt worden. Auf dem unteren Ende des Altarbildes sind Boote auf einem kleinen Fluß zu erkennen. Offensichtlich war die Treia in früheren Zeiten einmal schiffbar.
Jolanda ist die ehrenamtliche Küsterin des kleinen Gotteshauses. Schwer läßt sie sich auf eine der wenigen Bänke fallen. "Hier habe ich geheiratet, mitten im Krieg. Das waren schwere Zeiten. Das war in dem Jahr, als das mit den Deutschen passierte." Die Alliierten hatten ganz in der Nähe ein deutsches Kampfflugzeug abgeschossen. Der verletzte Pilot konnte sich mit dem Fallschirm retten. Einige Frauen aus Mazzano befreiten ihn aus dem Dickicht im Tal und brachten ihn nach Mazzano. Er überlebte und wurde seiner Einheit übergeben. Wortreich beschreibt Jolanda die Rettungsaktion. Wenige Wochen später wurde auf der Via Cassia ein deutscher Militärkonvoi von Partisanen angegriffen. Es gab Tote und Verletzte. Die Deutschen vermuteten die Widerstandskämpfer in Mazzano. Im Morgengrauen wurde der Ort umstellt. Santina und Jolanda haben es miterlebt. "Die Einwohner, hauptsächlich die Frauen und die Kinder, die Männer waren ja fast alle im Krieg, wurden auf die Piazza getrieben. Wir standen also in einer Reihe aufgebaut und blickten in die Gewehrmündungen. Die Deutschen drohten damit, uns alle zu erschießen. Im letzten Augenblick kam die Nachricht vom militärischen Oberkommando, daß wir dem deutschen Piloten geholfen hatten. Das hat uns das Leben gerettet."
Eine blecherne Lautsprecherstimme nähert sich auf der Straße den Berg hinunter. Wenig später biegt ein knallrot gestrichener Lastwagen mit neapolitanischem Kennzeichen auf die Piazza ein und kommt kurz vor der Bar Falco zum Stehen. Ein braungebrannter Mann im Muscle Shirt springt aus dem Führerhaus, auf der anderen Seite sein kleiner Sohn, der ihn begleitet. Schnell und mit geübten Griffen bauen sie eine Waage auf und stellen die Kisten mit Gemüse und Obst zurecht. Aus den umliegenden Gassen und aus dem Torbogen, durch den der Weg in den ältesten Teil des Borgos führt, tauchen mehrere Frauen verschiedenen Alters auf und beginnen mit dem fliegenden Händler zu feilschen. "Er kommt einmal die Woche", erklärt mir Jolanda. "Vergiß nicht, eine Honigmelone zu kaufen", ruft sie ihrer Tochter Sonia nach, dann wendet sie sich wieder mir zu. "Früher war hier der Markt. Dort drüben stand der Fischhändler. Es gab alles ganz frisch. Jetzt müssen wir bis zum oberen Platz laufen, wenn donnerstags Markt ist. Aber wenigstens Amadeo aus Neapel hat uns noch nicht vergessen!" Das Geschäft für Amadeo, die weite Fahrt von Neapel bis in den Norden Roms kann sich nur lohnen, wenn das Gemüse und das Obst extrem billig produziert werden. Auf den Plantagen rund um Neapel arbeiten Illegale für einen Hungerlohn.

Armut, Landreform, Nachkriegsgeschichte

Als junges Mädchen hat Santina noch auf den Feldern der Familie Drago gearbeitet. Ihrer eigenen Familie stand nur ein kleines Stück Land zur Selbstversorgung zu: "Dem Principe del Drago gehörte alles. Die Leute haben zu zwei Teilen für ihn und zu einem Teil für sich gearbeit. Einfach unglaublich!" Diese jahrhundertealte Fronherrschaft änderte sich erst mit der großen Landreform, die die Faschisten in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts einleiteten. Die Großgrundbesitzer und Landadeligen wurden teilweise enteignet und das Land nach Größe der Familien an die Landlosen zur Nutzung verteilt. Doch erst Anfang der 50er Jahre wurden die Ländereien in Besitztitel umgewandelt. Wenn das Land nicht bearbeitet wurde, konnten die Besitzverhältnisse wieder angefochten werden. Seit Jahrzehnten führt zum Beispiel Arduino einen erbitterten Streit mit der Familie Drago um ein Stück Land, das er nicht bebaut hat. An das Adelsgeschlecht der Dragos, denen das meiste Land in der Gegend gehörte, erinnert im Borgo ein prächtiges Patrizierhaus. Sie selbst haben es nie bewohnt.
Mehrmals habe ich in den 70ern Santina bei der Weinernte geholfen. Viele Jahre lang hat die Familie von Wein, Oliven, Nußplantagen und Obstkulturen gelebt. Santina gehört in Mazzano zu den wenigen Frauen ihres Alters, die Schreiben und Lesen gelernt hat. Aus dem Stegreif rezitiert sie minutenlang eine römische Romanze, die früher an langen Winterabenden weitererzählt wurde. In den höhlenartigen Wohnungen im alten Borgo, in und auf dem Tuff gebaut, lebten die Dorfbewohner in großer Armut. Santinas Kinder Pina und Alberto sollten es besser haben. Sie haben beide studiert. Mit dem Landbesitz änderte sich das Leben im Ort nachhaltig. Es gab plötzlich Geld. Die Bauern konnten erstmals Felder beleihen oder verkaufen und größere Häuser außerhalb des Borgo errichten. Am Hang oberhalb des mittelalterlichen Ortskerns entstand seit den 50er Jahren das neue Ortszentrum, gruppiert um die neue Piazza mit Kirche und Rathaus. Erst Anfang der 90er Jahre ist auch eine Filiale der Banco di Roma dazugekommen.
Mazzanos Ortsbild zeigt die sprunghafte Entwicklung exemplarisch in drei Stufen. Als letztes wurde die Ebene oberhalb des Tals neu bebaut. Die Felder, höchstens noch Nebenerwerbsquelle, wurden sukzessive aufgegeben und als Bauland verkauft. Die Familie Mancinelli hat sich ein großes zweistöckiges Wohnhaus im modernen Ortsteil gebaut. Santina bewohnt es gemeinsam mit den Familien ihrer Kinder. Sie sitzt auf der großzügigen, blumenumsäumten Terrasse des Hauses und zeigt zum neuen Ortszentrum von Mazzano hinüber: "Hier waren früher nur Weingärten. Hier hat kein einziges Haus gestanden. Wir haben ja auch alles verkauft, als mein Mann gestorben ist. Alberto und Pina wollten die harte Feldarbeit nicht mehr machen. Sie haben alles vertrocknen lassen" Santina kann bei diesem Thema nur schwer ihren Groll auf ihre Kinder verbergen.
Santina ist gehbehindert. Nur mühsam kann sie sie sich auf Krücken fortbewegen. Die jahrzehntelange Arbeit auf den Feldern hat ihr die Hüftgelenke ruiniert. Wohlgefällig schaut sie ihrer Haushaltshilfe Tatjana nach, die aus Weißrußland stammt, ohne offizielle Aufenthaltsberechtigung in Mazzano lebt und inzwischen ihre ganze Familie nachgeholt hat. "Sie ist so zuverlässig und bescheiden. Ich kann mir niemand Besseren vorstellen. Die Menschen müssen doch auch leben. Und bei ihnen zuhause gibt es keine Arbeit. Da haben sie doch keine andere Wahl, als hierher zu kommen."
Santina ist tief katholisch. Daß sie ihre politische Stimme aber immer dem anderen Lager gegeben hat, ist für sie kein Widerspruch: "Wer einmal zu den Besitzlosen gehört hat, der wählt die Partei, die die Interessen der Besitzlosen vertritt." Alberto und Pina sind politisch ähnlich orientiert und Mitglieder der PDS. Das hinderte Santina nicht daran, Pina und deren Mann dazu zu überreden, gemeinsam mit dem Wohnmobil so ziemlich alle Wallfahrtsorte Europas abzugrasen.

Pioavorolo - Rosselini und Totó entdecken einen Drehort

"Neben Rossellini saß Ingrid Bergman. Sie war eine wunderschöne Frau." Santina gerät ins Schwärmen. Ihre Augen glänzen, als sie sich an die Dreharbeiten zu "Francesco - der Narr Gottes" erinnert: "Eines Morgens ging ich los, um meine Schweine zu füttern. Zwei Herren im Auto hielten mich auf der Piazza an und fragten, ob ich als Komparsin arbeiten möchte. Sie würden gut bezahlen. Zusammen mit drei anderen Frauen habe ich eingewilligt. Wir sind zum Monte Gelato gefahren. Fünf Tage haben wir gedreht. Sie haben uns mit Mönchskutten ausgestattet."
Anfang der 50er Jahre entdeckte Rossellini die Gegend um Mazzano als idealen Drehort nahe bei Rom. Es folgte eine 20jährige Filmgeschichte, die den Mazzanesen unvermutete Einnahmen bescherten. Sergio Leone drehte hier seinen berühmten Italo-Western "Für eine Handvoll Dollar". Ich habe Mitte der 70er Jahre noch selbst die Überreste der Kulissen gesehen, in denen sich Clint Eastwood und Lee van Cleef ihr Showdown lieferten. Heute weiden hier die Schafherden von sardischen Viehzüchtern, die im Frühjahr ihre Tiere mit der Fähre zum Festland bringen. Am Ortseingang steht eine riesige Halle, der das Dach einzustürzen droht. In diesem Studio wurden zahlreiche Szenen prächtiger Kostümfilme gedreht. Am Ende waren es noch einige Pornofilme, dann wurde es still.

Einen Gedenkstein für Mazzano setzte 1955 der neapolitanische Poet, Adelige, Komödiant und Held der italienischen Filmgeschichte Totó. Er benutzte den Ort selbst als Kulisse für seine satirische Komödie "Destinazione Piovarolo", in der er die Rückständigkeit Italiens vor und nach dem zweiten Weltkrieg karikiert. Der halbe Ort spielte mit. Die Drehorte und Straßen im alten Ortszentrum haben sich seitdem kaum verändert. Beim Blättern in einem Buch mit Standaufnahmen zum Film kommen Silavana und ihr Mann Arduino ins Erzählen: " Er hat wirklich die hässlichsten Frauen im Ort ausgewählt, für die Szene in der Kirche, in der Totó sich nach einer Frau umschauen soll. Totó war eine komische Person. Klein, dürr, mit einem etwas schiefen Mund, aber immer sehr elegant gekleidet. Alle wollten ihn sehen." Von ihren Einnahmen beim Film konnten die beiden ihre eigene Wohnung im Borgo erwerben und ausbauen.
Gino findet "Destinazione Piovarolo" auch in dokumentarischer Hinsicht interessant: "Er zeigt das Dorf, wie es vor 40, 50 Jahren ausgesehen hat. Man hat inzwischen vieles gerichtet, aber nicht mehr im ursprünglichen Stil, so, wie sie es zum Beispiel in Umbrien machen. Hier hat man einfach Alluminiumfenster eingesetzt. Auch dafür ist der Film gut. Das Kino gibt uns ein Bild von der jüngeren Vergangenheit, die man selbst bereits vergessen hat." Wir schauen uns in dem fast fußballfeldgroßen verlassenen Studio am Ortseingang um. Ein Schwarm Tauben, den wir aufgestört haben, fliegt davon und erfüllt den hohen Raum mit plötzlichem Lärm. Gino zeigt auf die nackten Ziegelwände "Eine Schallisolierung haben die damals nicht eingebaut, aber da gab es auch noch nicht so viele Autos. Wenn die Glocken läuteten, mußten die Dreharbeiten unterbrochen werden." Gino ist ein lebendes Nachschlagwerk für das Kino Italiens. "Mich fasziniert das Kino. Die Italiener haben Fantasie und sind technisch geschickt. Früher machte man Filme mit viel Fantasie und wenigen Mitteln." Als Statist wollte Gino nie arbeiten. Die lange Warterei nervte ihn. "Aber irgendwie bin ich ja doch beim Kino hängengeblieben", witzelt er.

Gino fährt jeden Morgen Mahlzeiten für Filmproduktionen zu verschiedenen Drehorten in und um Rom aus. Hergestellt werden sie von den Geschwistern Spalloni, die die größte Bar im Ort betreiben. Die Eltern, Bauern aus Mazzano, verkauften einige Felder und eröffneten an der Abzweigung der Straße zum Ort, gleich neben der Tankstelle, eine Landgaststätte. Die Idee war so einfach wie erfolgreich. Im Restaurant konnten sie ihren Wein, ihr Fleisch und ihre Feld- und Gartenfrüchte direkt verwerten. Der wirtschaftliche Durchbruch kam mit der Entdeckung Mazzanos als Drehort. Die Spallonis erkannten ihre Chance und gründeten eine Catering-Firma, die heute zu den wichtigsten in der Gegend von Rom zählt.

Katia zeigt mir den ehemaligen Gastraum, den sie und ihre Geschwister kürzlich mit großem Aufwand in ein modernes Café verwandelt haben. An der Wand hängt ein Foto der verstorbenen Mutter, die die Seele des Gasthauses war. Am Wochenende verkehrte hier früher auch schon mal die Prominenz aus Rom. Anwälte, Politiker, Ärzte und Kardinäle kamen gern am Sonntag zu einem ausgedehnten Mahl auf's Land. Wie ihre Geschwister hat auch Katia studiert, doch keiner von ihnen ist aus Mazzano weggegangen. Sie ist stolz auf ihre bäuerliche Herkunft, und die Fortsetzung des Lebenswerks ihrer Eltern liegt ihr am Herzen. Die Bewahrung traditioneller Werte und die Aufgeschlossenheit für moderne Ideen und die Veränderung der Gesellschaft, die auch vor Mazzano nicht halt machen, sind für sie kein Widerspruch. Ähnlich wie ihr Vater hat sie sich schon früh in der kommunalen Politik des Ortes engagiert. Sie will, daß Mazzano seine Lebendigkeit nicht verliert und das Gleichgewicht zwischen alteingesessenen Mazzanesen und neu hinzugezogenen Römern und Ausländern erhalten bleibt. Für sie ist die Entwicklung in der Nachbargemeinde Calcata ein warnendes Beispiel. Hoch über dem Tal scheinen die Häuser des alten Borgo von Calcata mit dem Tuff der Bergkuppe zu verschmelzen. In den 70er Jahren wurde der Ort von Aussteigern und Künstlern entdeckt. Inzwischen gibt es so gut wie keine ehemaligen Dorfbewohner mehr. Sie haben sich in den neuen Ortsteil verzogen. Die Schmuckboutiquen und kleinen Edelrestaurants haben nichts mit ihrem Leben gemein. "Der Borgo von Calcata ist eine kleine Attraktion. Unbestritten. Am Wochenende ist unwahrscheinlich was los, aber unter der Woche ist Calcata so gut wie tot. Ich bin froh, daß man unseren Borgo von der Straße aus nicht sieht, sonst wäre hier in Mazzano wohlmöglich das Gleiche passiert", lacht Katia. Sie ist eine impulsive, selbstbewußte Frau, die gerne lacht, doch ihrem Gesicht sieht man auch die Arbeit und die Sorgen an. Anfang der 90er, als nach dem Zusammenbruch des Ostblocks auch in Italien der Win-Win-Rausch ausbrach, versuchte ihr Mann in Albanien einen Betrieb aufzubauen. Nach anfänglichem Erfolg scheiterte er und verlor fast sein gesamtes Vermögen. Das ist nicht spurlos vorüber gegangen.

Aus dem Café sieht man direkt auf die Tankstelle. Ihr gegenüber auf der anderen Straßenseite sitzt der "Senat" in der wärmenden Nachmittagssonne, - eine Anzahl würdiger alter Männer auf einer Bank und mehreren hinzu geholten Stühlen. Sie kommentieren das vor ihren Augen ablaufende Geschehen, und hin und wieder rufen sie laut über die Straßenkreuzung, um einen Bekannten zu begrüßen, der vorüberfährt. Mir wird erklärt, daß der "Senat" an der Tankstelle der bedeutenste ist. Hier werden alle Ereignisse, ob sie nun lokaler oder globaler Natur sind, ausführlich diskutiert und bewertet. Wenn der Tankwart, der selbst beim Einfüllen von Sprit seine Kippe nicht aus dem Mund nimmt, gerade nichts zu tun hat, gesellt er sich zu ihnen.
Es gibt noch einen weiteren "Senat" am mittleren Platz auf halben Wege zum alten Ort und einen dritten auf der Piazza des Borgo . Früher war letzterer der wichtigste Treffpunkt für die Patriarchen des Ortes. Wie der Zeiger einer Sonnenuhr zogen sie während des Tages einmal rund um die Piazza,- immer der Sonne nach.

Väter und Söhne, Landbesitz und Landflucht

"Das ist mein Hobby. Andere gehen fischen, Fußball spielen. Ich mach das hier." Livio schichtet nach traditioneller Art mit der Gabel einen Heuhaufen rund um einen Pfahl auf. Immer wieder klopft er die oberste Schicht fest. "Das muß ganz dicht aufeinanderliegen. Damit der Regen nicht durchkommt. Genauso, wie die Schwarzen in Afrika die Dächer von ihren Hütten bauen." Livio wischt sich den Schweiß aus dem Gesicht und stützt sich einen Moment auf die Heugabel. Vom benachbarten Feld nähert und entfernt sich das tiefe Brummen einer Erntemaschine, die das Getreide gleichförmig in regelmäßige runde Ballen verarbeitet. "Manche halten mich für verrückt. Aber für mich ist das hier ein Vergnügen. Die Zeit geht gut vorbei so."

Livio ist Straßenpolizist. Er mag seine Arbeit nicht. Verkehrskontrollen, Unfälle, wechselnde Schichten. Aber er ist auf das Gehalt angewiesen, das jeden Monat pünktlich überwiesen wird. Seine geschiedene Frau und die gemeinsame halbwüchsige Tochter hängen auch davon ab. Mit seiner jetzigen Freundin - heiraten will er erst mal nicht mehr - hat er auch eine kleine Tochter. Das kostet Geld. "Wenn die Kleine etwas im Fernsehen sieht, will sie es sofort haben." Jeden Augenblick, den er erübrigen kann, verbringt Livio auf dem Gelände, das er von seinem Vater geerbt hat. Am Rande der Olivenbaumplantage steht ein halbfertiges Haus. Das Geld hat erst einmal nicht weiter gereicht. Anders als in Nordeuropa läßt es das Klima zu, daß man jahrelang an einem Haus bauen kann, ohne die Bausubstanz zu gefährden. Livio sprengt die lange Reihe der Tomaten und füttert die Ziegen und Hühner, bevor er nach Hause eilt, um sich die Uniform für den Streifendienst anzuziehen. "Hier in Mazzano haben die meisten als Bauern aufgegeben. Manchmal habe ich Angst, dass es mir zu viel wird, dass ich anfange, die Familie zu vernachlässigen. Aber dann stelle ich mir vor, daß mich Nello, mein Vater, von oben aus beobachtet." Er deutet mit einer Kopfbewegung zum Himmel. "Der wird dann wütend werden. Kaum bin ich weg, gibst du alles auf! Dem könnte ich da oben nicht mehr unter die Augen treten."
Schon von weitem sieht man den mächtigen alten Feigenbaum auf dem verlassenen Grundstück, das auf einer Anhöhe liegt. Von hier aus hat man einen prächtigen Überblick über die Hochebene, die von einzelnen Tälern zerschnitten wird. Mit Cenzo, dem Besitzer war ich befreundet. Er war praktisch nie aus dem Dorf herausgekommen und besaß die Weisheit eines Philosophen. Vor einigen Jahren ist er ganz plötzlich gestorben. Nun knattert er nicht mehr auf seiner uralten Moretti den Berg hinunter mit frischem Gemüse, das sich hinter ihm auf dem Rücksitz türmt. Im Schatten der Obstbäume haben wir das Osterfest gefeiert. Das Gras unter den Bäumen ist lange nicht mehr geschnitten worden. Nur die Weinstöcke sind noch gepflegt. Vor kurzem scheint ein Blitz in den alten Baum eingeschlagen zu haben. Ein schwerer Ast hat sich gelöst und das Dach der aus Ziegeln erbauten Hütte teilweise zum Einstürzen gebracht. In dem verwilderten Garten wachsen Tomaten, die sich selbst ausgesät haben. Sie schmecken so köstlich wie früher. In den letzten Jahrzehnten hat sich Mazzano dramatisch verändert. Einen Teil davon habe ich miterlebt. Die Leute fahren täglich zur Arbeit nach Rom oder kommen am Wochenende aufs Land. In Mazzano selbst gibt es so gut wie keine Arbeit mehr. Die Felder sind verkauft und ohne Bebauungsplan wild besiedelt worden. Im illegalen Häuserbau liegt die Gegend landesweit an der Spitze. Auch Livio hat sein Haus ohne Genehmigung errichtet. Nun wartet er wie alle anderen darauf, daß er gegen eine Geldbuße die Baugenehmigung nachträglich erhält.

Etrusker, Ausländer, Immigranten

Nach einem beschwerlichen Anstieg sind wir am Ziel angekommen: Ein hinter Gestrüpp und niedrigen Eichen verborgener, in den Tuff gehauener Eingang , der zu einer etruskischen Grabstätte führt. Gino hat mich hergeführt. Er kennt jede Ausgrabung in der Gegend hier. Schon als Kind hat er sich für die zahllosen Spuren vergangener Epochen interessiert und ist häufig genug verprügelt worden, wenn er abends zu spät von einer seiner Entdeckungstouren zurückkehrte. Die Gegend um Mazzano war lange vor den Römern kultiviert, und Grabräuberei ist bis heute ein einträglicher Nebenerwerb. Regelmäßig kreist ein Hubschrauber der Carabinieri, um verdächtige Grabungen aufzuspüren.
Der angesehene Archäologe Timothy W. Potter begann in den 60er Jahren mit systematischen Ausgrabungen und entdeckte die Gegend für die Ausländer. Die ersten Engländer und dann auch Finnen, die bei der FAO in Rom arbeiteten, ließen sich im weitgehend verlassenen Borgo nieder. Antonio Mauro sah seine Chance. Er vermittelte den Ausländern die mittelalterlichen Wohnungen und baute sie ihnen aus. In den 70ern kamen einige Deutsche, darunter auch ich, hinzu.

Inzwischen ist der Borgo neu belebt. Einige Römer verbringen ihr Wochenende hier. Auf den immerwährend neu eröffneten Baustellen hört man Rufe und Kommandos auf italienisch, polnisch, rumänisch und russsisch. Mazzano ist ein Paradies für Immigranten und Illegale geworden. Allein 300-400 Rumänen sollen in den letzten drei Jahren dazu gekommen sein. Das ist zu viel für einen Ort, der nicht darauf vorbereitet ist und nur ca. 2.500 Einwohner hat. Die beiden Rumänen, mit denen ich mich unterhalte, fühlen sich dennoch relativ sicher und akzeptiert.

Yanni spricht fast fehlerfrei italienisch. "Ich jobbe auf einer Baustelle in Rom. Ich bin diplomierter Ingenieur und früher in Rumänien habe ich für eine Telefongesellschaft gearbeitet. Es ist nicht einfach hier, aber besser als in Rumänien. Dort lebt man wirklich schlecht. Deswegen hauen alle ab, vor allem die Jungen." Jeden Tag im Morgengrauen fährt Yanni mit einem der blauen Busse nach Rom. Abends kehrt er todmüde zurück. Die kleine Wohnung im Borgo teilt er sich mit Aleksandar. „Es gibt praktisch keine Verfolgung seitens der italienischen Behörden. Mit dem Geld, das wir auf den Baustellen verdienen, können wir unsere zurück gebliebenen Familien ernähren. Alle zwei Wochen weise ich das Geld online an. Ich rufe an, und sie können das Geld dann abholen.“ Einige der Polen haben sich niedergelassen und ihre Familie aus Polen nachgeholt.
Sonntags besuchen auch sie die Messe von Don Italo, der inzwischen die kirchlichen Ankündigungen in mehreren Sprachen drucken läßt. Die Kirche leert sich, die Menschen in Feiertagskleidung flanieren über die Piazza und schlürfen in der Bar Sportivo einen Kaffee mit einem Schuß Grappa oder versammeln sich in kleinen Gruppen, um das neue Auto des Nachbarn sachverständig zu begutachten. Arturo und sein ungefähr gleichaltriger Freund, der beim Lachen eine Reihe riesiger Zähne entblößt, lehnen am Rand des kleinen Parks auf einem Absperrgitter, das die Zufahrt von Fahrzeugen verhindern soll. Über den weiten Platz schreitet ein würdiger alter Herr mit weißem Bart und läßt sich auf einem Mäuerchen im kleinen Park nieder. Er trägt einen blau-grauen Burnus und einen Fez auf dem Kopf. Ein Junge, der eben noch mit zwei Mädchen herumstand, setzt sich zu ihm, und die beiden beginnen auf arabisch miteinander zu sprechen. Offensichtlich handelt es sich um Großvater und Enkel. "Das sind Marokkaner", erklärt mir Arturo. "Sie arbeiten auf Märkten und handeln mit Stoffen. Das sind die einzigen hier, die eine Genehmigung haben. Die anderen arbeiten alle illegal." Arturo ist der Meinung, daß die extracomunitarii - die illegal im Land lebenden Ausländer - niemanden belästigen. So nah bei Rom sei Mazzano nun mal ein Anziehungspunkt. Viele von ihnen würden nur zum Schlafen herkommen, da in Mazzano die Mieten viel billiger seien.
Don Italo ist vor das Kirchenportal getreten und verabschiedet einige ältere schwarzgekleidete Frauen. Vor dreißig Jahren hat er als junger Priester diese Gemeinde übernommen und seitdem nicht mehr verlassen. Er kennt seine Dorfbewohner, hat sie getauft, getraut und ihnen die Totenmesse gelesen. Ein volksnaher Mann, der seinem Gegenüber Respekt einflößt. Er nimmt Einfluß auf das Ortsgeschehen. Schon häufiger habe ich ihn im vertraulichen Gespräch mit dem gewählten Bürgermeister gesehen. Kürzlich hat er eine Untersuchung in seiner Gemeinde durchgeführt und festgestellt, daß sich Menschen aus 24 Nationen in Mazzano aufhalten. Seine Kirche ist offen für verschiedene Religionen. Regelmäßig lädt er zu einer gemeinsamen Andacht für Muslime und Christen ein. Gemeinsam mit der Caritas und Freiwilligen aus der Gemeinde kümmert er sich inzwischen verstärkt um die Nöte der extracomunitarii. In seinem Pfarrhaus beherbergt Don Italo eine kleine Sammlung verschiedenster Gegenstände, die die Geschichte des Ortes dokumentieren.
Arturos Freund schaut auf die Uhr. "Pantera will nach Hause, das Mittagessen wartet", schmunzelt Arturo. "Weißt Du warum er Pantera heißt? Das ist sein Spitzname. Fast alle im Ort haben einen Spitznamen." "Es gab früher ein Comic-Heftchen mit drei Hauptfiguren, eine davon war Pantera", sagt Arturos Freund. "Das war so ein kleiner Junge, dem ich angeblich ähnlich sah. So ein komischer, häßlicher. Deswegen haben sie mich Pantera genannt." Er wirkt tatsächlich wie ein frecher Junge mit seinem breiten Grinsen, seiner Baseball-Kappe und der verspiegelten Sonnenbrille.
Kürzlich hat jemand aus dem Dorf ein Buch über die Spitznamen in Mazzano herausgegeben. In jeder Familie sind sie gebräuchlich und jeder Spitzname hat seine eigene, besondere Geschichte. Sie charakterisieren die Menschen, ihre Eigenheiten und ihre soziale Funktion, die sie in der Dorfgemeinschaft haben. Durch die Herkunftsgeschichte der Spitznamen erhellt sich einiges über Lebensgewohnheiten, Denkweisen und nicht zuletzt Witz und Einfallsreichtum, die der italienischen Sprache ihre Lebendigkeit und Schlagfertigkeit geben.

Auf der Piazza unten im alten Ort vor der Bar Falco sitzen zwei Finnen und trinken ihren Espresso. Durch die Fremden und Zugereisten hat sich der Borgo wiederbelebt. Davon profitieren auch die Metzgerei und das Lebensmittelgeschäft an der Piazza. Der junge Mann, der seit einigen Jahren die alte Ziegelei des Dorfes wiederbetreibt, stammt aus Sizilien.

Jolanda schaut gelassen dem Treiben zu. Sie ist die anerkannte Respektsperson, der auch einige angetrunkene Polen aufs Wort gehorchen. Ihre Bar ist der Treffpunkt für alle. Jolanda betreibt sie seit über 40 Jahren. "Früher hatte kaum einer Geld, um ein Eis zu kaufen", erzählt sie. "Zuerst hat es 5 Lire gekostet. Dann 10, dann 100 und jetzt 1000 Lire!" Am öffentlichen Telefon nebenan versucht ein Weißrusse die unendliche Ferne zu seiner Familie mit brüllender Stimme zu überbrücken. Früher stand das einzige Telefon des alten Ortes in der Bar. "Zuerst wußten die Leute gar nicht damit umzugehen. Sie fürchteten sich richtig, wenn ich sie rief, weil es ein Gespräch für sie gab. Manchmal mußte ich für sie reden." Jolanda lacht bei diesen Erinnerungen. Später singt sie mir eine italienische Volksweise vor und erzählt von ihrem Vater, der als junger Mann zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach den USA auswanderte und 20 Jahre später enttäuscht zurückkehrte. "Sonst hätte es mich ja nicht gegeben", schmunzelt sie. Die Arbeitsnot hatte die Italiener millionenfach ins Ausland getrieben. Vielleicht verstehen sie deswegen die Motive der extracomunitarii, in ihr Land zu kommen.
SeitenanfangImpressumDatenschutz