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„Lebensunwert – Der Weg des Paul Brune“

Dokumentation von Robert Krieg und Monika Nolte (ARD/WDR)

Lang sind die Wege der Kamera, bedächtig die Worte des Mannes, der vor einer prall gefüllten Bibliothekswand wie ein Bildungsbürger wirkt. Ein Lehrer, der Paul Brune jedoch nie sein durfte. Die NS-Rassenlehre hatte ihm, unehelicher Sohn einer verhinderten Selbstmörderin, mit acht Jahren eine ererbte Geisteskrankheit attestiert, er galt als "lebensunwert".

Düstere Szenen einer fernen Vergangenheit, sollte man meinen, doch die Odyssee, welche die Dokumentarfilmer Robert Krieg und Monika Nolte unternehmen, führt weit in die Gegenwart hinein, bis ins Jahr 1977. Da bescheinigte ihm ein Gutachter "Asozialität per Anlage". Das war zwei Jahre, nachdem die Psychiatrie-Enquete-Kommission tagte, und acht Jahre nach dem Amtsantritt der sozial-liberalen Brandt-Regierung. Und nachdem Brune es geschafft hatte, aus widrigsten Umständen heraus ein Referendariats-Studium zu beginnen. Die Zeit wird bleiern, die Gedanken sehr schwer.

Akribisch skizziert die Dokumentation Brunes Lebensweg, illustriert nur von alten Fotos und dem harten Klang marschierender Stiefel, sowie vor dem Hintergrund der alten Gebäude, die ihr dunkles Geheimnis aus sich heraus nicht preisgeben. Das überlassen die Autoren ausschließlich dem Porträtierten, der als Einziger zu Wort kommt – neben den alten Akten mit ihrem Sprachduktus der Menschenvernichtung.

So bahnt der Film einen Weg zurück in die Vergangenheit, lässt sich in dramaturgischer Gelassenheit auf das Erzählte ein, eine Ruhe, die Platz lässt für das Ungeheuerliche der Ereignisse. So entsteht eine beklemmende und dennoch aufklärerische Lesart, die nicht mit dem Schrecken überrumpelt, sondern diesen wie einen Moll-Akkord auf dem Klavier nachhallen lässt. Diese Getragenheit ist auch nötig, denn es erscheint heute kaum nachvollziehbar, was Paul Brune erdulden musste.

Als uneheliches Kind vom Vater geschmäht, kam er nach dem Selbstmordversuch der Mutter 1943 in ein katholisches Waisenhaus. Ein finsteres Institut, voll mit den Nazis kooperierte, auch im Weltbild. Was den Faschisten aus rassistischen Gründen "lebensunwert" erschien, war den Klerikern die "Frucht der Sünde". Die Nonnen hielten Bildung deshalb für überflüssig, ließen beten und "Heil Hitler" rufen. Die Jungen wurden in der Zwangsjacke ans Spülrohr gefesselt, mussten ganztägig schweigen und Geißfuß jäten, woraus Essen gekocht wurde.

Auch nach dem offiziellen Euthanasie-Stopp 1941 sei mit Medikamenten, Hunger und Gewalt weiter gemordet worden, erläutern die Autoren. Brune selbst hält sich mit Schilderungen zurück, zu sehr lastet die Vergangenheit auf ihm, lässt weder Wut noch Enttäuschung, sondern nur noch Erschöpfung und einen Funken Ungläubigkeit zu. Dies respektieren die Autoren, werden nicht indiskret, auch nicht durch szenische Dramatisierung, die berüchtigten Doku-Drama-Elemente.

Ihnen genügt es, alte Propaganda-Bilderbücher der Nationalsozialisten zu zeigen: auf dem einen ist eine Nervenklinik zu sehen, auf dem anderen ein grünes Idyll mit siebzehn Häusern für deutsche Arbeiter. Die zynische Botschaft: statt Kranke zu versorgen, sollten mit dem Geld gesunde Volksgenossen gefördert werden.

Den tragischen Erinnerungen wird in dem Film nicht Relativierendes entgegengesetzt. Nicht einmal Urteile, denn die Psychiatrie-Gutachter, die Brune internierten und für andere "Lebensunwerte" das Todesurteil einleiteten, wurden freigesprochen. Die Doku greift die Prozesse nicht auf, was Unschärfe in die Chronik eines gebrochenen Lebens bringt. Aber die Autoren zeichnen auch kein Zeit-Stück über die Nachkriegsjahre, skizzieren Brunes Emanzipation, seinen Kampf um eine eigenständige Existenz gegen die Stigmata der Bürokraten, sehr knapp.

Das hat den Vorteil, dass sie sich nicht im Gestrüpp von Details verfangen und mit ruhigem Atem die Zuschauer den Atem anhalten lassen können. Der Film wirkt dadurch etwas sprunghaft, zufällig und aus der Zeit gefallen. Dennoch bleibt er ein starkes Stück, das von der Authentizität und dem Respekt gegenüber dem Zeitzeugen lebt.

Brune erhielt erst 2003, mit der fünften Petition, eine Anerkennung als Verfolgter des NS-Regimes. Eine Einzelfallentscheidung noch nach über sechzig Jahren. Was die Frage aufwirft, warum solche Entscheidungen nicht pauschal als ungesetzlich, weil inhuman, aufgehoben wurden. Diese Frage stellt Brune nicht, und auch Robert Krieg und Monika Nolte suchten nicht den politischen Streit, sondern drehten eine Hommage an ein Opfer des Naziregimes.

Dieter Deul

epd medien, 68/05
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