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Wir können nicht normal denken

Innere und äußere Wunden Novi Sads: "Europa war so nah" (WDR)

Eine Altherrenrunde spielt Karten. Mit nacktem Oberkörper sitzen die vier Rentner am Ufer der Donau. Der Campingtisch und die Plastikstühle stehen auf saftigem Grün. Träge döst der Fluss. Am selben Sommertag hat in derselben Stadt ein Musiker auf einer Schaukel Platz genommen. Auch er ist umgeben von Wiesen und Sträuchern, doch singen die Vögel hier lauter als am Donaustrand. Der Musiker, der in einer Punkrockband den Bass bedient, kratzt sich am Hinterkopf, raucht und blinzelt in die Sonne. So sanft kann sommers die Zeit vergehen, wenn alle Sorgen fern weilen.

Derlei Idyllen aber sind selbst für mitteleuropäische Wohlstandsbürger nur als mediales Konstrukt glaubhaft. Die Kraft der Behauptung gänzlich eingebüßt hat dieses Glücksbedürfnis, wo sich Menschen ihm hingeben, denen das Unglück die Zunge führt. Wenn die vier Senioren vom Blatt aufschauen, fällt ihr Blick auf die Stümpfe zweier zerstörter Brückenköpfe, die mitsamt einer absonderlich verbogenen Trägerkonstruktion nutzlos aus der Donau ragen. Wenn Bassist Bebec zu reden beginnt, beklagt er die Erfolge der regimetreuen "neuen serbischen Volksmusik" und resigniert angesichts staatlich kontrollierter Musikverlage. Bebec ist neunundzwanzig Jahre alt, er arbeitet als Tischler in seiner und der Pensionäre Heimatstadt, in Novi Sad.

Gerade drei Monate sind die Luftangriffe der Nato vorbei, als Monika Nolte und Robert Krieg zum ersten Mal die zweitgrößte Stadt Serbiens besuchen. Die drei Brücken, welche die Stadtteile miteinander verbanden, wurden im Mai 1999 binnen Minuten vernichtet. Der Bombenhagel zerteilte die Geschichte Novi Sads in zwei Kapitel, deren Überschriften noch nicht feststehen. Sie hassen es, kämpfen zu müssen in einem Leben, das sich nun einmal nicht vermeiden lasse, erklärt Bebec´ Kollegin Biljana mit englischem Sprechgesang. Die beiden Mitglieder der Gruppe "Boye" machen zornige Musik und betrauern ein Davor, das komfortabel sich ausnahm. "Ein guter Pass" sei der jugoslawische gewesen, man habe problemlos nach Venedig zur Biennale, nach Böblingen zum "Ramones"-Konzert reisen können. "Dann kamen die Sanktionen", fährt die achtunddreißigjährige Biljana fort, "und wir waren unerwünscht." Die Maßnahmen der Nato also sind es gewesen, die Novi Sad aus Europa bombten.

Noltes und Kriegs Reportage, die in der WDR-Reihe "die story" am Sonntag gezeigt wurde, übernimmt diese Deutung nicht nur insofern, als die beiden Autoren Biljanas bittersten Ausspruch zum Titel erkoren: Ihm zufolge trieb das nordatlantische Bündnis die Bewohner von Novi Sad, das 350 Kilometer vom Kosovo entfernt liegt, unberechtigt in den balkanischen Hinterhof, denn "Europa war so nah". Auch spricht der Off-Kommentar von dem Wirtschaftsembargo, "das aus Serbien ein Armenhaus gemacht" habe. Die Zäsur erscheint allein als Folge der westlichen Politik, die in den nächtlichen Luftangriffen vom Mai 1999 gipfelte.

Ein anderes Kalendarium schlägt ein Mann im Ohrensessel vor. Dort sitzt Edmund Rac und wundert sich und kann es nicht fassen und ruft deshalb aus: "Der liebe Herr!" Novi Sad sei "eine der größten Oppositionsstädte", die Bomben hätten an keinem unpassenderen Ort niedergehen können. "Diese Kriegsphilosophie", sagt der in Deutschland ausgebildete Grafiker ungarisch-deutscher Abstammung, "ist uns fremd." Der Plural meint die Gemeinschaft der "Lale", wie die Menschen aus der Region Vojvodina genannt werden. Die Lale "sind friedliche Leute, sie mögen keine Bombardierung."

Ein kühner Schnitt, der Edmund Rac fast ins Wort fällt, verbindet das heimeligen Wohnzimmer mit dem Friedhof. Der Tod, das Resultat der gerade verurteilten Kriegsaktion, ist zugleich der einzige verbliebene Versöhner. Ein sorgsam vertikal fotografierter Grabstein soll belegen, welch gewaltige Eintracht der Nationen und Sprachen einst, sprich: vor dem Bombardement, unter den Lebenden hier herrschte. Das Epitaph führt als Ahnherrn den ungarischen k. u. k. Obersten von Issekutz an und führt über die Familien Faith und Novikov zur kyrillisch verewigten Familie Andzelkovic. Die 150 Jahre, die das bis 1994 reichende Grabmal umschließt, haben offenbar als die glücklicheren Tage zu gelten.

Edmund Rac jedoch widerspricht der von Biljana und Bebec vorgegebenen, von Monika Nolte und Robert Krieg größtenteils bestätigten Trennlinie. Seit dem Amtsantritt Miloševic´ seien die Jugoslawen einer Gehirnwäsche unterzogen worden: "Wir können nicht mehr normal denken, europäisch denken." In der Sichtweise Rac' erweist sich somit der innerstaatliche Terror als die dem Luftkrieg mindestens ebenbürtige Wasserscheide. An ihr steht noch immer der Belgrader Diktator. Gegen den Willen der oppositionellen Stadtregierung von Novi Sad ließ er in diesem Frühjahr eine Pontonbrücke, die den Schiffsverkehr erheblich behindert, errichten. Westliche Hilfsangebote hingegen werden abgelehnt. Auch unter diesen Realitäten lässt das Leben sich nun einmal nicht vermeiden.

Alexander Kissler

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. Juni 2000
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