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Interview mit Horst Grabert

Herr Grabert, was waren Ihrer Einschätzung nach die Hauptfehler des Westens in den letzten 10 Jahren, bis hin zum Kosovo-Krieg?

Also, da muß ich zunächst sagen, den Westen, der da Fehler macht, den gibt es nicht. Es gibt verschiedene Interessen im Westen, die sich teilweise widersprochen, ergänzt, miteinander Streit gehabt haben. Aber den Westen gibt's nicht und eigentlich heute auch noch nicht. Das ist einmal ein Grundfehler, daß wir immer meinen, hier ist der geeinte Westen. Fehler sind 'ne ganze Menge gemacht worden, unterschiedliche natürlich. Der erste wirklich gravierende Fehler, gegen den Widerstand unserer Partner und Freunde im Westen, war das Durchpeitschen der Anerkennung Kroatiens und Sloveniens zu einer Zeit, wo diese Anerkennung notwendigerweise verheerende Folgen für den ganzen weiteren Prozeß hatte. Das ist wohl ein besonderes Trauerspiel, das man nicht übersehen darf. Und das nächste Problem war, daß ganz im Gegensatz zu dem, was mit dem ersten Fehler angerichtet wurde, die Vereinigten Staaten mit dem Vorgehen in Bosnien genau das Gegenteil von dem erreichen wollten, nämlich den multi-ethni- schen Staat Bosnien-Herzegovina. Und Europa ist dieser amerikanischen Initiative ja erst gefolgt. Das heißt, alle Möglichkeiten, Orientierung zu geben für die Menschen in dieser Region, sind überflüssigerweise vergeben worden. Und daß Orientierung notwendig war, ergibt sich aus dem Durcheinander des Zusammenbruchs. Aber auch der – ich weiß nicht, ob man das als Fehler bezeichnen soll, es war mehr ein Unvermögen – im Zusammenhang mit der schließlich erreichten multinationalen Lösung Bosnien betreffend, ist es unterlassen worden, den ja bekannten und offenen Problempunkt Kosovo mit anzusprechen. Denn auch hier ging es ja darum, eine Versöhnung mehrerer Ethnien miteinander zu bewirken, und es hätte eigentlich vom Thema mit dazugehört. Also wenn Sie so wollen, drei wichtige Punkte und tausend kleine.

Sie haben die Rolle der Deutschen schon angesprochen. Die haben ja auch eine besondere Verantwortung.

Ja, ganz sicher. Nun muß man zu Deutschland sagen: Deutschland war ja damals in einer sehr komplizierten Situation, das darf man dabei nicht vergessen. Die deutsche Politik war praktisch zu 99 Prozent mit den Problemen der Vereinigung beschäftigt. Und deswegen hat Deutschland sich auch nicht vertieft beschäftigen können mit der Entwicklung des Prozesses, schon eigentlich seit dem Tode Titos. Damals haben wir uns zwar beschäftigt, aber ab '87 wäre es dringend erforderlich gewesen. Und da waren die politischen Energien gebunden. Und dann – ein ganz wichtiger weiterer Punkt, der nicht nur für Deutschland, auch für andere mindestens zum Teil zutraf: wir haben die Qualität des Konfliktes völlig unterschätzt. Er galt eigentlich als eine unwichtige Sache in diesem Jahr. Und keiner hat sich konzentriert auf diese Frage und hat die europäische Dimension nicht erkannt. Es war ein Gebiet ohne Erdöl, ohne Atomkraft, wenn ich mal von dem kleinen Atomkraftwerk in Slovenien absehe. Es gab keine wesentlichen, nennenswerten Uranvorkommen. Überhaupt wirtschaftlich war das Gebiet eigentlich ein Randinteresse. Es gab also nichts, was man sonst harte Interessen nennt. Politische schon, aber solche bezeichneten Interessen gab es eigentlich nicht. Und das verleitete dazu, die Sache als eine mindere Qualität zu behandeln. Es kommt nicht so drauf an, da kann schon nichts passieren. Ist ein unwichtiger Konflikt. Und da schlidderte das Ding genau in die falsche Richtung. Das war wohl das Hauptproblem, wie sich dieser Konflikt so aufschaukeln konnte. Und das ist auch die Erklärung dafür, daß die größeren Mächte sich alle untereinander auch nicht koordiniert haben, jeder seine Suppe erst mal gekocht hat. Einen schwierigen Fall haben wir ja behandelt, aber das ist beileibe nicht der einzige. Und so nahm das Unheil seinen Lauf. Wenn ich das nun gleich anfügen soll – stellen Sie sich doch bitte vor: eine Initiative wie den Stabilitätspakt für Südosteuropa, 1989/90. Höchstwahrscheinlich, man kann Alternativprozesse in der Außenpolitik ja nicht beweisen, aber höchstwahrscheinlich hätte es den Krieg nicht geben brauchen. Dies nur, um den Kontrast zu zeigen, daß es schade war, daß wir den Konflikt – auch Franzosen, Engländer genauso – zunächst, ganz zu schweigen von den Amerikanern, völlig unterschätzt haben.

Damit haben Sie schon gleich meine Frage beantwortet. Welche Möglichkeiten hätte es damals gegeben, diese Entwicklung zu verhindern? Aber ganz klar hängt ja auch der Zerfall Jugoslawiens mit dem Ende des Ost- West-Konfliktes zusammen. Vielleicht können Sie dazu etwas sagen.

Na ja, also das ist natürlich die ganz wesentliche Voraussetzung für den ganzen Prozeß, der sich dann ergab, und zwar sind es anders als in der ehemaligen Sowjetunion und den Satellitenstaaten noch zusätzliche Gründe. Jugoslawien war unstreitig ein kommunistisches Regime. Zwar auf einigen Gebieten, na, ich will nicht liberal sagen, aber doch offener als wir das aus den anderen Strukturen kennen. Aber im Prinzip natürlich ein kommunistisches Regime, was zumindest auch in der Anfangszeit drastische Unterdrückung betrieben hat und viele Leute außer Landes getrieben hat, wobei ich jetzt nicht die Deutschen meine, die Volksdeutschen, sondern konservative Kräfte. Die sind nach Deutschland, nach Kanada, nach USA, nach Australien gegangen, und es hat sich nach dem Bruch Titos mit Moskau 1948 eine unabhängige, später blockfreie Position ergebe, die in interessanter Kombination mit Ägypten/Indien die Blockfreien-Bewegung ins Leben gerufen hat. Das heißt, es war der einzige europäische größere Staat, der wesentlichen Einfluß in der Blockfreien-Bewegung hatte. Hatte also aus der Zwischenlage zwischen dem Warschauer Pakt und der NATO ein Eigengewicht. Denken wir noch dran, wie Außenminister Genscher die Rolle Jugoslawiens als blockfreies Land immer gelobt hat, in der damaligen Situation völlig verständlich. Aber mit dem Zusammenbruch des Kommunismus ist also nicht nur die Implosion der kommunistischen Idee geschehen, sondern gleichzeitig ein völliger Bedeutungsverlust für Jugoslawien. Also ein doppeltes Vakuum, wenn Sie so wollen. Und ein Vakuum, in das nun alle möglichen Kräfte hineindrängten. Und das war der Beginn und der fortschreitende Zerfallsprozeß, der ganz deutlich nach dem Tode Titos sichtbar war. Angefangen hat das schon früher. Und das, glaube ich, darf man nicht vergessen. Auch daraus haben wir nicht die notwendigen Lehren gezogen, denn ich erinnere mich – ich war ja selber bis Ende '84 in Jugoslawien, und ich habe über den Zerfall der jugoslawischen Wirtschaft zahlreiche Berichte geschrieben. Da haben die Republiksfürsten untereinander, also die Parteiführer, nicht, Republiksfürsten, schon nur in Dollar oder in D-Mark ihre Lieferungen gerechnet. Jugoslawien als einheitlicher Markt bestand nicht mehr. Schon '84 nicht mehr. Es sind gute Projekte nicht zustande gekommen, weil sich die Republiken oder die autonomen Gebiete untereinander nicht einigen konnten, wer was trägt oder bezahlt oder so. Also die wirtschaftliche Auflösung stammt nicht aus 1989 oder '87, sondern die war schon lange vorher passiert, und die Regierung, die föderative Regierung unter der wechselnden Präsidentschaft, hatte überhaupt nicht mehr die Kraft, das Land zusammenzuhalten. Im Gegenteil. Es hat Leute gegeben, für die war das ein Kavalierssport, Geschäfte zu machen gegen die Nationalbank. Beispielsweise in Bosnien: Milliarden von Dinar wurden auf ungedeckte Wechsel gezogen bei der Nationalbank, und in Bosnien hat da die Agrokommerz-Organisation mit diesem Geld nichts in die eigene Tasche gesteckt – worauf ja andere heute auch immer Wert legen, daß sie etwas für eine Sache tun, und nicht für die eigene Tasche, das war damals genauso. Und da wurde das Geld in einem Teil Bosniens investiert, was eine hervorragende, moderne Agrarwirtschaft entwickelt hatte. Alles zu Lasten der Nationalbank in Belgrad. Sie sehen, diese Prozesse haben also nichts mit der Zeit ab '87, Rede in Kosovopolja und so weiter zu tun. Das waren alles schon Schritte in dem Prozeß. Der Prozeß hat viel früher angefangen. (...)

Kann man sagen, daß das jugoslawische Modell, also ein besonderes Modell, auch ein Grund war, daß der Auseinanderfall Jugoslawiens nicht wie in den anderen sozialistischen Ländern friedlich verlaufen ist?

Na ja, ja und nein. Da muß man noch erinnern an den Aufstand in Kroatien '71, der ja im Zusammenhang mit dem Prager Frühling entwickelt war, aber eben nicht als Kommunismus mit menschlichem Ansatz, sondern mit nationalem Ansatz. Und dieser Aufstand '70/71 ist ja von der Armee auf Befehl Titos in drei Tagen niedergeschlagen worden, und danach hat Tito den Befehl gegeben, eine neue Verfassung zu entwickeln, die noch föderativer und ich weiß nicht was werden sollte. Und das ist ja dann geschehen. Die Verfassung ist '74 in Kraft getreten und machte die Republiken fast – fast zu selbständigen Staaten. Das ist auch der Grund, warum die Grenzen der Republiken dann von westlichen Staaten als künftige Staatsgrenzen akzeptiert worden sind. Nicht die autonomen Gebiete, aber die sechs Republiken. Nun muß man dazu natürlich wissen, bei Tito handelt es sich um einen Kommunist, für den war eine Verfassung ein Instrument der Propaganda. Der hat nicht gedacht, daß das, was in der Verfassung steht, nun auch passieren müßte. Ich hab selber mit ihm darüber geredet noch in dem letzten Jahr. Nein, die Verfassung sollte insoweit Wirklichkeit werden, als es die Partei für richtig hielt. Und deswegen war es ungefährlich, die Staaten in der föderativen Republik Jugoslawien fast selbständig zu machen, weil Tito meinte, das, was wichtig ist, bestimmt eh die Partei in allen Teilen des Landes. Und das war eigentlich sein fundamentaler Irrtum. Denn mit dem Nachlassen seines persönlichen Einflusses und in der Zeit nach dem Tode haben natürlich die Provinzfürsten, Republiksfürsten, sehr gerne vom Buchstaben der Verfassung im eigenen Interesse Gebrauch gemacht. Und da gab es keine Partei mehr, die das zusammenhielt, denn als erstes zerfiel die Partei. Wie Sie sicher noch wissen, die ersten, die ausgetreten sind aus dem Bund der Kommunisten Jugoslawiens waren die Slovenen. Also, die haben die Föderation im Grunde genommen aufgekündigt in dem Sinne Titos. Na ja, und so ist das System, das Tito zur Beruhigung der Gemüter nach dem Aufstand in Kroatien etabliert hatte, mindestens technisch eine Möglichkeit gewesen für die separatistischen Kräfte, sich aus dem Staatsverband hinwegzuschmuggeln. Und das haben, weil es eben keine wirkliche Zentralgewalt gab, in diesem ja eigentlich künstlichen Staat, haben dann die Republiksfürsten gerne in Anspruch genommen, weil es ging ja um ihre Macht, die sie jetzt ergreifen wollten, um in das Vakuum der Föderation ganz Jugoslawiens einzudringen und die Machtposition zu besetzen. Das ist eigentlich der Prozeß. Und die einzelnen Leute, ganz unterschiedlich in Slovenien, in Kroatien, in Bosnien-Herzegovina, natürlich auch in Montenegro und Mazedonien und Serbien mit den beiden Provinzen, haben da ihre sehr spezifischen Überlegungen gehabt. Aber alle waren mehr oder weniger entweder durch Verheißung draußen stimuliert, oder es waren eigene Machtgelüste. Und zum Beispiel hat natürlich die kroatische Meinungsbildung stark beeinflußt, daß ihnen ein selbständiger kroatischer Staat verheißen war. Und man hatte ja schon lange vor der Anerkennung durch Emissäre in Kroatien, in Zagreb, von den C-Parteien Signale gegeben, nicht? Oder so, das lief dann eigentlich mehr oder weniger automatisch.

C-Parteien? Christlich?

Die christlichen Parteien, speziell aus Deutschland, also CDU und CSU. Es gab ja fast mehr CSU-Parlamentarier in Zagreb als sonst irgend jemand, der da immer Gespräche führte. Die NATO hat sich sehr zurückgehalten, hat ein Eingreifen von vornherein völlig abgelehnt und so weiter, das ist richtig. Offizielle Politik hat sich sehr zurückgehalten. Aber auf dem Balkan ist es ja so, offizielle Politik gilt da nicht. Was steckt dahinter? Das ist das Interessante. Und das war auch das, was Herr Tuzman hören wollte, der ja noch als jüngster General der jugoslawischen Volksarmee hochdekoriert eine Lobesrede auf Tito gehalten hat. So lange ist das alles noch nicht her gewesen.

Es gibt bestimmt auch wirtschaftliche Interessen, die die europäischen Länder, westeuropäische Länder haben an der Auflösung, am Zerfall Jugoslawiens. Können Sie dazu vielleicht etwas zu sagen?

Nein, eigentlich nicht.

Die gibt's nicht?

Eigentlich genau umgekehrt. Wirtschaften in den Ländern, die haben von dem Versuch des gemeinsamen Marktes in Jugoslawien nur profitiert. Die waren behindert durch die Aufspaltung des Marktes. Das hat denen überhaupt nicht gefallen. Und gerade die deutschen Industriellen, bitte, von VW, Mercedes angefangen, alles, Hoechst, hatten sie alles ja im Lande. Allerdings nicht mit großen Geschichten, aber immerhin. Die sind immer vorstellig geworden und haben gebeten, daß man doch dafür sorgt oder es unterstützt, daß die Föderation zusammenbleibt, weil für ihre Aktivitäten brauchten sie den größeren Markt. Mit diesen Zwergstaaten konnten sie überhaupt nichts anfangen. Also das Interesse der Wirtschaft war ganz sicher nicht auf Trennung ausgerichtet, sondern umgekehrt, auf Integration, auf weitere Integration. Und das gilt im Prinzip für die Engländer, Franzosen, Amerikaner genauso. Daß es andere Gründe gab, die gar nicht im wirklich exakt Wirtschaftlichen lagen, das mag sein, zum Beispiel Gründe westeuropäischer Staaten gegeneinander. Dieser Konkurrenzkampf der Firmen, die ja damals noch viel nationaler organisiert waren. (...) Oder Fiat, die ja ein gewisses neues Verhältnis zu Jugoslawien entwickelt haben in Konkurrenz zu den anderen westlichen...

Doch, erzählen Sie das ruhig.

Ja, also ein Beispiel für die gegensätzliche Konzeption, die Fiat entwickelt hat in seiner Kooperation mit dem jugoslawischen Autohersteller als Gegenstück zu VW und anderen. Da ist ein viel weiteres Eingehen auf die Wünsche Jugoslawiens eingetreten. Wenn Sie mal sehen, der Fiat 500, das ist der kleine Sastava in Belgrad, ist baugleich, und da hat sich natürlich eine viel dichtere, weil das Produkt auch viel billiger war, ergeben, die eigentlich die Fesseln des Gegenwert-Finanzierens gesprengt hatte. Und darauf war natürlich, waren andere, also die Franzosen, Engländer und speziell die Deutschen mit VW neidisch, oder böse, wie Sie wollen. Also VW hat bis zur letzten Schraube alles mit Gegenwertfinanzierung machen müssen. Fiat war dadurch, daß es praktisch eine Fiat-Fabrik, na, wir würden sagen, volkseigenen Betrieb gegeben hat, in Jugoslawien in einer viel besseren Situation. Nun weiß man, wer damals Fiat geleitet hat, da gab‘s natürlich auch eine ideologische Nähe. Das war genau der Typ Kommunismus, den der Fiat- Chef für richtiger hielt. Mit dem Moskauer hatte er nichts im Sinn, aber mit diesem wohl schon. Also so was spielt auch `ne Rolle. Aber bitte, wollen wir uns über die Größenordnung nicht täuschen – marginale Vorgänge.

Der Kosovo-Konflikt hat ja wohl schon nach Titos Tod angefangen, sich abzuzeichnen. Kann man ihn vielleicht sogar als Ursache des Zerfalls, oder nicht als Ursache, aber als Beginn des Zerfalls Jugoslawiens bezeichnen? Mit der Idee Groß-Albanien im Hintergrund?

Ja, wissen Sie, das Kosovo-Problem ist ja viel älter. Das wollen wir jetzt alles nicht erörtern, geht ja Jahrhunderte. Aber es ist akut geworden 1948. Als aus Moskau der Befehl zur Kollektivierung der Landwirtschaft kam, hat Tito zunächst diese Order umgesetzt oder angefangen umzusetzen, und die Milizia, also die Polizei, zog auch in die Dörfer des Kosovo, um die albanische Bevölkerung davon mehr oder weniger nachdrücklich zu überzeugen, daß sie zu kollektivieren hätten. Und da sind die Albaner, die hier auf beiden Seiten im 2. Weltkrieg engagiert waren, sowohl auf der deutschen als auf der Partisanenseite, sind die in die Wälder gegangen und haben Partisanenkrieg angefangen. Gegen die Milizia, also gegen die jugoslawische Polizei. Und das nahm ziemlich dramatische Formen an, und daraufhin hat Tito die Kollektivierung der Landwirtschaft eingestellt, und das war einer der wichtigen Gründe, vielleicht sogar der wichtigste Grund, weswegen er mit Moskau gebrochen hat. Sie sehen, es ist eine ständige Wiederholung der Probleme. 1966 hat der serbische Innenminister Rankovic noch unter dem Eindruck der Verfassung, die vor dem Jahr 1974 war, drastische Strafmaßnahmen im Kosovo veranstaltet, wurde dafür von Tito gerüffelt. Man muß nicht vergessen, Tito war ja kein Serbe, er war Kroate. Und er ist dann in der Verfassung '74 soweit gegangen, daß die beiden autonomen Provinzen nicht nur autonom wurden, sondern gleichzeitig ein Element der Föderation wurden. Sie hatten Sitz im Staatspräsidium, und sie hatten Sitze im Bundeskammerparlament. Nicht 30, wie die Republiken, sondern 20, aber fast soviel. Das heißt, das Kosovo war unter Tito ab '74 konstitutiver Teil der Föderation. Nicht nur Teil Serbiens. Das hat wieder eine Ruhephase im Kosovo hervorgerufen. Aber als Tito starb, waren die alten Leute im Kosovo alle noch vorhanden, die ihre nationale Unabhängigkeit im Kopf hatten. Und 1981, ein Jahr, rund ein Jahr nach dem Tode Titos, begann ein Aufstand im Kosovo. Ziemlich unangenehm, drastisch. Ich bin da selber viel gewesen. Mir sind auch die Kugeln um die Ohren geflogen. Nicht von der Gendarmerie, sondern von der albanischen Seite gab‘s viele ungute Vorkommen. Seit diesem Zeitpunkt gibt es eine Fluchtbewegung der Serben aus dem Kosovo nach Serbien. Also in dieser Phase rund 20.000. Und es waren sowieso aufgeregte Zeiten. Und in Serbien wurde aus diesem Grunde der alte serbische Nationalismus aufgeblasen. Und Tito hat diese nationale Bewegung immer geschickt verstanden, durch ökonomische oder soziale oder andere Maßnahmen immer wieder zu mindern, abzubauen, bis zu Eigenheiten eben reduziert, die er nie unterdrückt hat. Jetzt war aber Milosevic in einer völlig anderen Situation, der selber kein Nationalist ist. Aber er war der irrigen Meinung, man könnte mit dem Nationalismus andere Dinge erledigen, die zu erledigen waren, beispielsweise die desolate Wirtschaftslage Serbiens. Dazu brauchte man kinetische Energie, um es so zu sagen, und das wurde als Antibewegung auf den albanischen Nationalismus im serbischen Nationalismus wieder angeheizt. Und dann kam es zu der Rede "Schlacht auf dem Amselfelde", diese berühmte Jahrhundertfeier von 1389 auf 1989, die dann eine nationalistische Rede par excellence war, und dieser Prozeß und die Verfassungsrückänderung, also die Aufhebung der Autonomie der Gebiete in Serbien, hat dann zu dem formalen Auflösen der Föderation geführt. Insofern kann man, was die letzte Entwicklung angeht, sagen: der Zerfall Jugoslawiens hat '81 begonnen. Akut.

Sie haben es jetzt schon in der Person Milosevic angesprochen. Ich frage trotzdem noch mal. Geht es in erster Linie überhaupt um ethnische Konflikte, oder stehen dahinter nicht eigentlich ökonomische und machtpolitische Konflikte, die sich aufgrund der während der 80er Jahre verschärften wirtschaftspolitischen Situation entladen mußten?

Ja, es ist ja immer so, daß eine Sache nie aus einem Grunde sich entwickelt. Das ist immer ein Bündel. Das ist in der Politik genauso wie bei solchen Vorgängen. Ich würde aber trotzdem sagen, daß die nationalen Konflikte, die es auf relativ harmloser Ebene gegeben hat, ganz unstreitig, relativ unbedeutend waren. Sie sind mißbraucht oder, wenn Sie so wollen, benutzt worden, aufgeblasen worden durch eine Propaganda übelster Machart. Übrigens nicht nur in Serbien, sondern genauso in Kroatien oder in den späteren Konflikten von allen Seiten. Genauso wie die Religion instrumentalisiert worden ist. Also selbstverständlich. Um da mal ein Beispiel zu sagen: Nach dem Vertrag in Dayton habe ich mich mit meinem alten Freunde, dem Imam in Zalio, getroffen, und der sagte: "Botschafter, schrecklich, ich habe jetzt so viele Gläubige, die noch nie was vom Koran gehört haben!" Also Sie sehen, das ist instrumentalisiert, genauso wie zwischen Orthodoxie und katholischem Glauben. Also ich würde mal so sagen, auf beiden Seiten sind dann schließlich die Waffen gesegnet worden, und das sind immer keine guten Zeichen. Nein, der Grundprozeß ist die ungeklärte Machtfrage, der Drang, in die Machtposition zu gelangen, koste es, was es wolle. Und da spielen auch nationale Fragen, soweit sie nicht mißbraucht oder gebraucht werden, 'ne untergeordnete Rolle. Sehen Sie, bei der angeblich so rein ethnischen Auseinandersetzung im Kosovo waren die ersten Toten die liberalen Albaner, die von den Taci-Leuten umgebracht worden sind. Da geht's nicht um den albanischen Begriff, sondern es geht um Macht, es geht um Durchsetzung auch gegen Interessen von Angehörigen der eigenen Volksgruppe. Die Volksgruppe ist eine westliche Erfindung. So gibt's das gar nicht. Da gibt es Clans, da gibt es Banden, da gibt es politische - scheinbar politisch organisierte Machtstrukturen, um Macht auszuüben, aber nicht um dem Lande zu dienen. Und da spielt es gar keine Rolle. Da geht's auch gegen die eigene Nationalität. Sie sehen das bei den Serben, Sie sehen das bei den Kroaten. Also in Bosnien will ich gar nicht reden, da gab‘s sogar Krieg zwischen, richtigen Krieg zwischen den Moslems. Also die Vorstellung, daß da Nationalitäten, nationalistisch gesinnte Menschen aufeinander mit Begierde zuschlagen, die ist, glaube ich, eine westliche Importsache. Das hat nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Schauen Sie, im kroatisch-serbischen Krieg wurden Reservisten in Belgrad eingezogen, also der angeblichen Hochburg des serbischen Nationalismus. Von den einberufenen Reservisten sind 82 Prozent der Einberufung nicht gefolgt. Nicht 18 sind nicht gekommen, sondern 18 sind gekommen und 82 Prozent sind nicht gekommen. Das ist nicht typisch für eine national – nationalistisch aufgeheizte Atmosphäre in Serbien. Nur mal das eine Beispiel: Natürlich gibt's Nationalisten in Serbien, viel zu viele, das ist klar. Aber das sind meistens diejenigen, die damit etwas machen wollen. Nicht ursprünglich von den Menschen hervorgebrachte Gefühle. Und das ist eigentlich mit kleinen Nuancen in dem ganzen alten Jugoslawien so. Es gibt – gab immer schwere Konflikte zwischen Slovenen und Kosovo-Albanern, gibt's auch heute noch. Es sind ja noch ein paar Hundert Kosovo-Albaner in Slovenien. Die werden heute vorgezeigt, multi- ethnisch und so. Aber da müssen Sie mal in der Kneipe sitzen und hören, was man auf die – wie man über diese Kanacken denkt, nicht? Das gibt es. Aber das ist nicht vorherrschend bei den Menschen in Slovenien, oder im Kosovo, oder wo. Wenn Sie mit den Menschen reden, werden Sie sehr schnell feststellen, daß die im Grunde genommen Frieden wollen. Sie wollen mit ihrer Familie leben, mit ihren Freunden leben. Und erst viel später fragen sie, ob das ein Albaner, ein Serbe, Kroate, Bosnier – obwohl Bosnier ist ja schon sehr unpräsize – ist, das interessiert cum grano salis relativ wenig. Natürlich gibt's nationalistische Kreise. Und die kommen in das Fernsehbild und die werden vorgeführt. Und da gibt's schlimme Ausuferungen, wissen wir alle.

Was ist eigentlich Milosevic für einer? Ist er ein Nationalist? Was für Interessen vertritt er eigentlich? Also, ich hab zum Beispiel im Kopf – aus Sicht der jugoslawischen Bevölkerung, so wie ich sie jetzt kennengelernt habe –, daß er eigentlich zuallererst seine eigenen privaten Interessen vertritt.

Na ja, das ist der ganze Familienclan derer von Milosevic, nicht? Das hat sich so entwickelt. Also das ist eine hoch interessante Geschichte. Ich hab ja öfter mit ihm zusammengesessen und Mittag gegessen, und da war er noch Bankdirektor. Sein Ziehvater ist Jurastudent, also Jurist, plus Volkswirtschaft. Was man da so nannte. Und sein Ziehvater war der Ivan Stambulic, der ist ein Konsemester von ihm und Blutsbruder, frei übersetzt, und der war Parteichef in Serbien. Und die ganze Zeit, schon von Studentenzeiten, ging Stambulic immer vorneweg und Milosevic kam hinterher. Und Milosevic hat immer die Meinung von Stambulic. Weil Sie mich fragten: Was ist das für einer? Und dann, im Zusammenhang mit dem Beginn des Einsatzes von serbischem Nationalismus, habe ich Herrn Milosevic mal den "Zauberlehrling" übersetzt. Ich habe gesagt: Slobodan, schauen Sie, Ihr alter Meister ist vor einem Jahr gestorben – '81 war das, wie das im Kosovo losging. Versuchen Sie nicht die Rolle mit dem Zauberlehrling. Ihr alter Meister kann nicht kommen und den zweiten Teil des Spruches sagen, daß die Flut beendet werde. Wer Nationalismus anfängt, macht einen Schritt, und er kann keinen weiteren mehr selber bestimmen, weil das geht dann über ihn hinweg. Er war der Meinung, daß das nicht stimme, er könne das. So, so ist er also ein Mann geworden, von dem andere sagen, daß er ein Nationalist sei. In diesem Prozeß wurde er immer egozentrischer. Als junger Mensch war der gar nicht so. War so ein richtiger Tito-Kommunist. Verehrung Tito, an der Allgemeinheit orientiert, auch noch seine erste Zeit als Regierungschef, er hat sich für die Leute interessiert und eingesetzt, und dann hat er – im weiteren Verlauf wurde er immer, ja, wie ich sagte, egozentrischer. Aber er war nie ein Nationalist. Er war auch nie ein wirklich überzeugter Kommunist. Er ist seinem Vorbild Stambulic nachgefolgt, bis es notwendig war – in Anführungszeichen –, ihn abzulösen. Wie geschah das? Milosevic wurde Parteichef, und Stambulic wurde Bankdirektor. Sie haben getauscht. Da wurde keiner umgebracht. Nein, gar nicht. Ich habe dann Ivan Stambulic, jetzt nach dem Kriege, in Belgrad wiedergesehen, wir haben uns sehr begrüßt und haben uns in den Armen gelegen. Weißt du noch, was wir damals diskutiert haben? Und der ist heute Bankdirektor, wie gesagt.

Inwieweit hat denn der Westen eigentlich, zum Beispiel durch das Dayton- Abkommen, dazu beigetragen oder mitgeholfen, Milosevic an der Macht abzusichern? Und was sind eigentlich die Hintergründe dieses doch ambivalenten Verhaltens des Westens gegenüber Milosevic?

Ja, man kann natürlich nicht mit Dayton anfangen. Ich muß ein paar Wörter über das sagen, was davor war. Das begann ja mit dem kroatisch-serbischen Krieg. Und es gibt die Vorstellung, daß der Krieg beendet wurde dadurch, daß die Vereinten Nationen eine Schlichtung herbeigeführt haben. Richtig ist, daß die UN sich bemüht hat, eine Schlichtung herbeizuführen, und daß die auch eine wichtige Funktion hatte. Nur: es ist nicht der UN gelungen, den Frieden herbeizuführen, sondern der Frieden war in dem Moment vorhanden, als sich Milosevic und Tuzman bei einem Geheimtreffen auf einer Jagd in Slavonien einig wurden darüber, wie Bosnien geteilt werden sollte. Damit war der Krieg zu Ende. Der kroatisch-serbische Krieg war ein Krieg, wenn ich das jetzt mal von den anderen Gründen befreie und den Hauptgrund nenne, der Krieg um die Teilung Bosniens. Und in dem Moment, wo Herr Tuzman in London da bei den Journalisten auf die Speisekarte die bosnische Landkarte aufmalte mit der berühmten Linie dazwischen: das ist kroatisch, das ist serbisch – da war der Krieg zu Ende. Und man hat in dem Gewand der UN diesen Frieden dann durch UN-Truppen an den Grenzen überwachen lassen. Das paßte auch sehr gut in das Erscheinungsbild. Und die Menschen in den Regierungen, in Außenministerien, in den Verteidigungsministerien wußten natürlich ziemlich gut, was eigentlich vorgegangen war. Die Publizistik hat davon überhaupt keine Ahnung gehabt, oder sie hat sie nicht vermittelt. Sicher gab‘s 'ne Reihe kluger Journalisten, die das Land kannten und die schon wußten, wie die Zusammenhänge sind. Aber es wurde nicht berichtet, es wurde nicht geschrieben. Eine ganz wichtige Frage. Die Journalisten vieler Seiten haben nicht mehr berichtet, sondern sie haben Partei genommen. Das verschärft immer jeden Konflikt. Und das hatte Izetbegovic, der bosnische Staatspräsident, schon im November in Bonn händeringend vorgetragen und gesagt: Erkennen Sie Bosnien, erkennen Sie Kroatien nicht an, besser auch nicht Slovenien, aber auf keinen Fall Kroatien, denn wenn Sie Kroatien anerkennen, dann gibt es Krieg in Bosnien. Es mußte ihn geben. Das war die Initialzündung, die Anerkennung Kroatiens, für den vorhersehbaren und vorhergesagten Krieg in Bosnien, denn bis zu der Anerkennung wollte sich Bosnien-Herzegovina raushalten aus dem Konflikt und bei der Föderation bleiben. Aber nachdem Kroatien ein Staat der Kroaten wurde – nicht der in Kroatien lebenden Menschen, sondern der Kroaten wurde –, waren natürlich die bosnischen Kroaten überhaupt nicht davon zurückzuhalten zu sagen: Wir wollen nach Kroatien. Und natürlich die Serben: Wir sind dann Serben, das ist dann Serbien. Und die Bemühungen, die damals noch stattfanden zwischen dreien oder ein paar mehr Leuten, die für ihre Gruppen sprachen, die wurden überrollt. Warum? Weil unter der deutschen Führung, ich komme noch mal auf diesen Punkt zurück, ein System etabliert war des ethnisch determinierten Staates. Und das ist tödlich für ganz Europa. Noch viel mehr für den Balkan. Jetzt kam die Gegenreaktion der Amerikaner, die sagten: Bosnien wird anerkannt, völkerrechtlich als multi-ethnischer Staat, also als Gegenmodell für die Anerkennung Kroatiens. Und Slovenien spielt da jetzt nicht so 'ne Rolle, weil in Kroatien wohnten die 700.000 Serben, nicht? Das war ein multi-ethnischer Staat. So begann dieser Konflikt, und anstatt daß die gesammelte westliche Welt, um Ihr Eingangswort aufzunehmen, gemeinsam nun den multi-ethnischen Staat verteidigt hätte, also die Vertreibung der Serben aus Kroatien verhindert, zum Beispiel aus der Krajina, hat die amerikanische Armee genau das Gegenteil gemacht. Sie hat die kroatische Armee in die Lage versetzt, die Serben aus der Krajina zu vertreiben. Und wenn eine so inkonsistente Politik in einem solchen diffusen Bild etabliert wird, dann gibt's 'ne Katastrophe. Und die Amerikaner haben sich als erste dann korrigiert und haben mit Holbrooke, der ja wohl der Vater des Gedankens war – gegen seine spätere Außenministerin im übrigen, die damit gar nicht so anzufreunden war –, Dayton durchgesetzt mit dem Prinzip eines multi-ethnischen Staates. Das haben die Amerikaner auch gegen diese berühmten moraltriefenden Überlegungen der Völkerselbstbestimmung völlig falsch verstanden. Eine Idee, so wie sie da propagiert wurde, auch für Serbien durchgesetzt später mit dem Kosovo. Hier war also ein ständiger Konflikt. Sehen Sie, das Ergebnis ist die Kosovo-Lösung, es steht jedenfalls auf dem Papier: Kosovo ist ein Teil Serbiens. Nach wie vor. Staats- und völkerrechtlich gilt das. Das ist der amerikanische Punkt gewesen – Durchsetzung des multi-ethnischen Staates. Und wie wichtig diese Fragen sind für Europa: wir werden in Europa nicht vorankommen, wenn wir ethnisch reine Staaten haben wollen. Wir brauchen eine Toleranz und keine Fremdenfeindlichkeit, was ja nichts anderes ist. Insofern ist diese Auseinandersetzung, wie dort in Dayton und später im Kosovo, signifikant für die Weiterentwicklung in Europa. Und das wird sich immer vertiefen, immer schwerer zu beherrschen sein. Sie sehen jetzt die Debatte in Bezug auf Österreich. Alles gehört nämlich zusammen. Wir sind ein Europa. So, und nun ist in Dayton – wir haben über die Schwierigkeiten dieser politischen Zeitspanne gesprochen. Es hat die Energie nur gereicht für die Befriedung des Gebietes, in keiner Weise für eine Lösung. Man hat auf die lange Zeit gehofft und die Amerikaner haben gesagt: Wir stellen das her, aber bezahlen tut das gefälligst Europa. So ist Bosnien-Herzegovina auch nicht sehr weit gekommen bisher. Hoffentlich kann es mit Stipe Mesic als kroatischem Präsidenten etwas positiver beeinflußt werden, weil der Mann ist auch kein Nationalist. Genausowenig wie der vorhin Behandelte. Ich weiß es nicht, man wird das abwarten müssen. Und in Dayton ist eben für den Beginn einer langfristigen Entwicklung der Versuch gemacht worden, eine wenn auch noch so brüchige Grundlage zu schaffen. Ob daraus was werden kann, das bleibt abzuwarten. Es ist bisher gelungen, was schon nicht wenig ist, daß das offene Kriegsgeschehen beendet ist. Aber sonst haben wir noch nicht viel an Entwicklung. Wie gesagt, hoffentlich durch den Wegfall dieses kroatischen Elements könnte es sein, daß sich auch das serbische zivilisiert, und dann ist es eine Notwendigkeit für den moslemischen Teil, und vielleicht kommt was Gutes raus. Das wird sehr davon abhängen, ob Westeuropa, also im wesentlichen Deutschland, Italien, Österreich, Frankreich, Großbritannien, sich eine bessere Politik überlegen. Keine Politik der Sanktionen, des Druckes, des Zwanges, sondern der Partnerschaft, der Zusammenarbeit. Das geht nämlich. Und sie haben dann eine nochmalige Verschärfung des Prinzipienstreites im Kosovo, um das gleich anzuschließen, denn für mich gehören die beiden Dinge nun zusammen. Und ob die KFOR oder SFOR heißt, ist völlig Wurscht. Sie haben beide schwierigste und fast unlösbare Aufgaben, denn wenn nicht ein System gefunden wird, um das Machtvakuum zu füllen, demokratisch vernünftig, mit einer zivilen Regierung zu füllen, dann wird‘s kein Ergebnis geben. Dann geht das weiter so. Deswegen kann man nicht Herrn Taci als Prime-Minister, wie Frau Allbright das getan hat und vielleicht jetzt nicht mehr tut, behandeln, denn er ist einer der militantesten Kräfte, auch gegen seine eigenen Leute. So wird man das Problem nicht lösen können. Das Vakuum im Kosovo auffüllen mit Taci ist ein völliger Irrweg. Das ist alles offen, und Sie sehen, das Problem ist nach wie vor komplex. Die Sache ist nicht beruhigt, weil es nicht gelungen ist, mit zivilen Vorstellungen ein gemeinsames Interesse der beteiligten Machtgruppen zu finden. Diese Formel ist versucht worden, zu spät, und vor allen Dingen, man kann diese Kooperationsformeln nicht wieder gegen eines der Völker benutzen. Also die Vorstellung eines Stabilitätspakts für den Balkan ohne Serbien ist irrwitzig. Das geht nicht. Und so wird diese Position wahrscheinlich Schritt für Schritt aufgegeben werden. Dann wird diese Sanktion gelockert, jene Sanktion. Lange. Kostet alles wahnsinnig viel Zeit. Hoffentlich kommen die Brücken dann mal aus der Donau und das E-Werk wird wieder aufgebaut. Hoffentlich, denn nur mit einer solchen Kooperation kann man die ja vom Westen total enttäuschte Opposition in Serbien wieder motivieren. Nicht mit Druck, sondern mit Kooperation.

Ich wollte auch auf die Opposition im Land zu sprechen kommen und dazu noch mal einen Rückgriff machen auf Dayton und auf Milosevic. Da war er ja der Garant für den Westen, für dieses Abkommen. Und soweit ich es verstanden habe, fühlt sich die Bevölkerung im Land vom Westen oder von den westeuropäischen Ländern verraten, weil sie das Gefühl hat, daß der Westen eben mit Milosevic ein doppeltes Spiel treibt. Konkret: Warum haben die westlichen Länder '96/97 die oppositionelle Massenbewegung, die damals auf den Straßen war, nicht in dem Maß unterstützt, wie sie es verdient hätte?

Ja, ganz einfach, weil die beteiligten Staaten Herrn Milosevic in Bosnien brauchten. Ganz einfach. Und Staaten müssen Verabredungen treffen mit Staatsorganen. Man kann wahnsinnig schlecht eine Regelung, die auf einer Machtbasis beruht, mit einer schlecht organisierten, ohne Einfluß dahindümpelnden Opposition treffen. Also man muß – der Staat muß mit dem Staat eine Abrede treffen. Wir haben die Kunst nicht, noch nicht wieder gelernt, daß wir mit mehreren Stellen sprechen, daß wir auf der staatlichen Ebene staatlich handeln, und trotzdem gesellschaftlich aktiv sind. Das müssen nicht die gleichen Leute sein, aber wie die Welt ist, man kann über Machtfragen mit Machthabern reden. Aber nicht mit denen, die sie nicht haben. Das ist die Schwierigkeit. Und ich verstehe den Vorwurf der Leute, der sehr anständigen, zum Teil sogar richtig demokratischen Opposition in Serbien ja nur zum Teil. Leider auch zum kleinen Teil. Aber um diese Leute tut es mir immer leid. Ich hab das immer versucht zu erklären, daß das nicht gegen sie gerichtet ist. Aber Milosevic hat das sehr geschickt genutzt. Und man soll ja in Erinnerung rufen, in Belgrad waren ja wochenlang jede Nacht 100.000 bis 250.000 Menschen auf der Straße, nicht mal so 5.000. Aber das war die Zeit, wo Herr Milosevic in Ruhe das sich hat entwickeln lassen können, weil er genau wußte, er ist nötig, um die Machtfrage in Bosnien zu einer – nicht Lösung, aber zu einer neuen Basis zu bringen, auf der man vielleicht etwas anderes wachsen lassen kann. Langer Prozeß, sage ich noch mal. Also das geht alles nicht schnell. Und so, das ist die Tragödie, wenn Sie so wollen, wobei ich allerdings anmerken möchte: Eine Lösung, die sich nur auf die Ablösung eines Mannes kapriziert, ist keine. Denn ich wage die Prophezeiung: Wenn dieser Outlaw-Mensch Milosevic erschossen worden ist, wie jetzt sein Verteidigungsminister Bulatovic, oder wenn er umkommt, also wie auch immer, dann gibt es keine Besserung. Soll man sich nicht einbilden. Weil die serbische Nation wird sich beleidigt fühlen. Die Auseinandersetzung, die die aufrechten Serben, die demokratisch Gesinnten – Sie waren da, Sie wissen das – natürlich gibt, wollen diese Frage in Serbien erledigen. Nicht von draußen oktroyiert zu kriegen. Das ist nicht der Weg zur serbischen Seele. Wer Entwicklung von Demokratie in Serbien entwickeln will, der muß sich vor einem hüten: vor Druck. Vor Androhung. Vor Gewalt. Wer diese Mittel einsetzt, wird nur den Widerstand der Serben organisieren und die Opposition schwächen. Das ist genauso wie in Deutschland, ich darf das sagen: 1944/43 haben die Deutschen nicht die Klamotten hingeschmissen und den Hitler weggejagt, sondern sie waren unter Druck. Von innen, aber auch von außen. Und die These, daß das Bombardieren der deutschen Städte den Krieg verkürzen würde, stimmt natürlich genau nicht. Gerade die deutschen Menschen sollten verstehen, weil sie alles so was mal in ihrem geschichtlichen Gedächtnis ja schon mal selber erlebt haben, daß es so nicht geht. Eine, ich will es jetzt mal ein bißchen theatralisch sagen, eine gebotene Hand wirkt da viel mehr als die Granate, die geschmissen wird.

Das, was Sie jetzt gerade sagen, kann man das auch als eine These vertreten für die Bombenangriffe, zum Beispiel auf eine Stadt wie Novi Sad?

Absolut. Ich bin ganz überzeugt, die große Mehrheit in der Stadt Novi Sad ist ein Gegner von Milosevic. Aber die Bombardierung hat selbst diese Gegner mit dem Jugoslawien, das sie im Kopf haben, so eng verbunden, daß sie sich gestellt haben: So nicht! Und sie haben alle diese Mühen und diese schrecklichen Situationen – nicht nur die eingeschmissenen Brücken, sondern die Produktionsstätten kaputt, die Elektrizitätswerke und, und, und... Häuser zerstört, Straßen zerstört, keine Bahn und nichts – das haben sie ertragen unter dem Druck, daß wir – wir alle jetzt in Jugoslawien, also in Serbien – wir stehen unter dem konzentrischen Druck eines Aggressors.

Und Sie würden auch vertreten, daß in diesem Fall noch mal die gleiche irrige Meinung den Hintergrund gebildet hat seitens der angreifenden Mächte, damit einen Volksaufstand oder was auch immer auszulösen?

Nein, eigentlich nicht. Ich glaube, in dieser Phase in Rambouillet wurde nicht mehr verhandelt. Im Rambouillet war beschlossene Sache, daß man Gewalt anwenden will. Aus Gründen, die gar nichts mit Jugoslawien oder mit Serbien zu tun haben. Und da wurde eine Performance gemacht, so 'ne schöne Alibi- Funktion. Irritation gab‘s nur, daß die Albaner nicht unterschreiben wollten. Das hat die Frau Allbright überhaupt nicht verstanden. Aber es war keine Verhandlung mehr. Und in dieser Phase hat kein Mensch an die Unterstützung einer Opposition gedacht. Das war in den Augen der westlichen Strategen – in diesem Fall wirklich aller – eine hoffnungslose Sache. Da lohnte sich kein Pfifferling drauf zu wetten. Jetzt wollte man in Abweichung von der feierlichen Deklaration in Helsinki, gegen das Völkerrecht und unter Verletzung der Charta der Vereinten Nationen Gewalt anwenden. Selber sich mandatieren. Das hat überhaupt nichts mit Jugoslawien zu tun. Das hat mit der Frage zu tun: Was geschieht mit der letzten übrig gebliebenen Weltmacht? Wer bestimmt jetzt? Die UN sind von den USA in dieser Phase auch auf anderen Gebieten untergebuttert worden. Das war keine Konfliktlösungsphase, sondern das war eine Durchsetzungsphase der übrig gebliebenen Weltmacht. Ich verstehe das. Ich billige es nicht, halte es nicht für richtig. Es ist 'ne andere Frage. Aber ich verstehe das. Es ist mir nichts Fremdes, was ich nicht verstehen könnte. Aber natürlich mit verheerenden Wirkungen an diesem kleinen, unbedeutenden, nebensächlichen Ort Serbien. Da wurde jetzt also das Prinzip durchgesetzt. Schon die Römer sagten: Principiis obsta. Wir sind zurückgefallen in die Zeit, sagen wir mal, innerhalb des Westfälischen Friedens so ungefähr, wo die Staaten begannen, Verantwortung zu übernehmen. Und jetzt sollte eben – bitte nicht gerade im Kreuzzug, also nicht, um das Heilige Grab zu befreien – aber es wurde genannt die Menschenrechte. Und in Wahrheit war es ganz was anderes. Es war auch ein Machtkampf. Eine Machtdemonstration, für die andern Beteiligten auch. Deutschland wurde auf diesem Weg wieder ein normaler Staat, wie Sie wissen. Jeder hatte sein Geschäft dabei.

(...) Gut, dann komme ich trotzdem noch einmal auf die übrig gebliebene Weltmacht zurück. Welche speziellen Interessen, geostrategischen Interessen standen eigentlich hinter diesem Krieg? (...)

Der Gedankengang kann jetzt ja einfach weitergeführt werden. Es gab ja eine längere Phase in den USA, wo auch heute noch sehr gestritten wird über die Rolle, die die USA jetzt spielen sollten. Da gibt's unterschiedliche Meinungen. Zum Beispiel Samuel Huntington, der vielen Unbekannte, plädiert energisch dafür, daß Amerika sich kooperativ entwickeln muß. Es reiche nicht aus, an jedem Ort der Welt Bomben abschmeißen zu können, sondern Amerika wird seine Weltgeltung nur behalten, wenn es in der Lage ist, die Welt kooperativ zu führen. Also nicht Vertrauen auf ausschließlich militärische Macht, beispielsweise, oder wirtschaftliche Macht. Da gibt es andere, aber ein großer Bereich... da gab‘s mal eine Denkschrift von 130 einschlägig 'vorbestraften' Professoren an den amerikanischen Präsidenten, die vor dieser Gewaltpolitik gewarnt hat. Und langsam hat sich aber herausgestellt, daß die amerikanische Administration – das wird sich beim Präsidentenwechsel ändern, ganz sicher – doch mehr auf diese Komponente der Machtentfaltung sich abstützt. Das ergibt sich aus vielerlei Überlegungen, die hier jetzt gar nicht Thema sind. Aber was heißt das? Wenn man das tun will, dann steht man vor der Frage: Welche Entwicklung soll die NATO nehmen als ein amerikanisch geführtes Militärbündnis? Zunächst Verteidigungsbündnis wie im NATO-Vertrag zu sehen, aber nach dem Wegfall des Warschauer Paktes ist diese Frage eine untergeordnete. Sie besteht natürlich. Aber neue Aufgaben der NATO müssen dazukommen. Und bei der Wortwahl dieser Worte klingt es schon wieder an, die Rede von dem verstorbenen Generalsekretär Börner, der ja fleißig eine Aufgabe für die NATO gesucht hat, und die müßte anderen Charakters sein. Also zur Verteidigung eben eine noch zunächst nicht genau definierte Fähigkeit, woanders für Interessen einzutreten. Golfkrieg. Europa hielt sich zum Teil raus, zum Teil nicht, wie wir wissen. Die Franzosen zogen sich heraus, sie machten nicht mehr mit, zu Anfang ja. Und der Vorwand war eben die Sache Kuwait. Da ging‘s auch nicht um Bestrafung des Irak wegen des Einmarschs in Kuwait. Und jetzt war die NATO natürlich in der großen Schwierigkeit, daß sie ihre alte Aufgabe fast los war. Und wie soll man in demokratisch verfaßten Ländern, die Mitglieder der NATO sind, den Kostenaufwand demokratisch legitimieren, wenn kein Mensch die Aufgabe mehr versteht. Also muß eine andere Aufgabe her. Wie sieht die aus? Ordnung schaffen. Na ja, es ergab sich das Anwendungsbeispiel. Die NATO sollte als erprobte und erfolghabende militärische Organisation die Menschenrechte in Europa verteidigt, wiederhergestellt oder was immer haben. Das war ein wichtiger Grund, einer mehrerer Gründe bei der NATO, sich zu entscheiden, entgegen den Intentionen der OSZE, die ja erfolgversprechende Verhandlungen geführt hatten, nun auf die Anwendung von Gewalt zurückzukehren. Nur so konnte die NATO ein erfolgserprobter militärischer Arm – ich sage jetzt – der NATO- Familie sein, unter Führung der Vereinigten Staaten. Das ist alles nicht so gekommen, wie es gedacht war, denn das war keine strahlende Menschenrechtsverteidigung und Wieder-Etablierung. Ich will jetzt das alles gar nicht aufzählen. Die NATO hat schwierige militärische Erfahrungen gemacht. Da ist ihr Tarnkappen-Bomber abgestürzt. Nicht, weil er einen Motorschaden hatte, was ja hätte sein können. Nein, der ist richtig von der jugoslawischen Luftabwehr abgeschossen worden, und danach wurden keine Flugzeuge diesen Typs mehr eingesetzt. Eine große militärische Schlappe. Ich weiß nicht, wieviel Milliarden die US-Airforce dafür ausgegeben hatte, für den Bomber. Es hat sich herausgestellt für die Europäer, daß sie völlig hilflos sind, was Information und Kommunikation angeht; Führung von Truppenverbänden muß sehr viel mehr geübt werden und so weiter und so fort. Auch die NATO hat also ihre Erfahrungen gesammelt, aber das war nicht so geplant. Die sollte als der strahlende Sieger da rausgehen. Und nun gibt es wieder eine Diskussion. Wir sind ja mittendrin. Letzte Wehrkundetagung in München kriegten sich die Amerikaner und die Europäer schon ordentlich in die Haare. Das sind die Ergebnisse des Krieges im Kosovo. Bosnien bißchen, aber noch mehr Kosovo. Das gehört alles mit dazu. Die Gestaltung der westlichen Organisationen ist wesentlich bestimmt von dem Prozeß des Krieges auf dem Balkan und der Führung der verschiedenen Positionen. Und wir sind da lange noch nicht am Ende. Das geht weiter, und wir werden ja sehen. Auch die Motivation: kein Mensch hinterfragt mehr wegen des Balkans, daß Deutschland mobile Eingreiftruppen braucht in Größenordnungen von 60.000 Mann. Was hat das für politische Folgen? Ich weiß nicht, wie die kleinen Staaten Europas darüber denken. Die CDU in Deutschland verlangt die Verwendung der Bundeswehr in innenpolitischen Fragen. Ich weiß nicht, wie das in Kombination mit 60.000 Mann hoch mobiler Eingreiftruppen in anderen Ländern gesehen wird, zum Beispiel in Norwegen. Oder in allen Ländern, die schon mal unter einer hoch mobilen deutschen Wehrmacht-Eingreiftruppe, ja, zur Herstellung der Nazi-Weltherrschaft, gelitten haben. Die sind irgendwie allergisch, werden die sein, mit deutschen mobilen Eingreiftruppen. Diese Diskussion, die kommt erst. Derzeit läuft alles noch unter dem Schirm Menschenrechte herstellen, Demokratie verteidigen. Es sind also die falschen Fahnen, unter denen gesegelt wird.

Stichwort: Menschenrechte herstellen. Das wird ja offensichtlich politisch benutzt, dazu haben Sie jetzt schon viel gesagt. Trotzdem noch einmal das Beispiel Kroatien: da sind massenhaft Serben vertrieben worden, dazu ist nichts gesagt worden. Wie werden Menschenrechte eingesetzt? Wie geht man damit um?

Ja, die sind disponibel. Aber das wird ja ganz – denken Sie mal an Ost-Timor. Da wurde der Cohen, amerikanischer Verteidigungsminister, von einem Journalisten der "Washington Post" gefragt – und ein CNN-Mensch stand dabei, das wurde gefilmt – "Mr. Secretary, beabsichtigen Sie, in Ost-Timor sich...?" "Nein", hat der gesagt, "this is not our interest." Das nationale Interesse Amerikas ist nicht berührt. Und da hat der Reporter gesagt: "Aber Menschenrechte, das..." "Die nationalen Interessen der Vereinigten Staaten sind nicht berührt." Punkt. War die Antwort. Also, ich sage immer etwas scherzhaft: Menschenrechte dürfen dazukommen, wenn es den Interessen richtig erscheint, irgendwas zu tun oder zu lassen. Aber sie sind nur in den Medien, in der Propaganda, in der Verneblungsaktion sind sie hoch willkommen, aber sie sind in keiner Weise wirkliche, reale Gründe. Sehen Sie, geschichtlich ist die Frage im 2. Weltkrieg auch erst im Laufe des Krieges entschieden worden. Der hat nicht begonnen als ein Kampf gegen das Regime, das Auschwitz unterhält. Gar keine Rede davon. Der 2. Weltkrieg war auch kein moralischer, in Anführungszeichen moralischer Krieg. Hinterher, nach dem Krieg wurde es dann einer. Ich weiß nicht, ob das gut ist, daß man so die Geschichte umdeutet. Ich glaube, es würde den Menschen allseits, auf allen Seiten besser tun, wenn man mehr bei der Wahrheit bleibt. Aber das ist 'ne persönliche Auffassung. Ich gebe zu, die ist nicht weit verbreitet. Das gilt eben nicht nur für schwarze Koffer und Rechenschaftsberichte von Parteien, wenn man die unterschreibt und so, sondern das gilt auch für die ganz normale tägliche Politik. Und in Demokratien muß ein Zusammenwirken mit den Menschen möglich sein. Und das geht nur mit Information, wirklicher Information – nicht Propaganda und Verneblung. Das funktioniert nicht.

Was denken Sie, warum gerade Novi Sad so heftig bombardiert worden ist, obwohl diese Stadt ja eigentlich bekannt ist als Hochburg der jugoslawischen Opposition?

Ich glaube, natürlich war das bekannt. Das hat aber nicht weiter 'ne wesentliche Rolle gespielt. Man hat Novi Sad als einen Punkt gesehen, genauso wie die Pancevo-Produktion. Eigenbedarfsdeckung ist ja in Jugoslawien 30 bis 35 Prozent. Was die Mobilität der Streitkräfte im Süden des Landes beeinträchtigen würde. Deswegen mußten erst mal diese Raffinerien, also auch Novi Sad, ausgeschaltet werden. Dann war natürlich die Donau eine ideale strategische Grenzlinie, um die Verlegung von Truppen aus der Vojvodina an die südliche Front zu vermeiden. Also mußten die Donaubrücken kaputt geschmissen werden. Das ist 'ne rein strategische Generalstabsüberlegung. Und dann kam dies dazu und das dazu, und hier sitzt die Kommunistische Partei..., und so, wie wir das erlebt haben. Chinesische Botschaft ist nicht da, die war woanders. Also da ist nicht politisch gedacht worden. Und die Ziele waren militärisch alle darstellbar und begründbar. Wenn man Heizkraftwerke für Wohnanlagen bombardiert aus militärischen Gründen, was man ja getan hat, und das o.k. der NATO- Botschafter dafür erhalten hat – na ja, was kann man dann eigentlich nicht? Und dann gibt's eben noch den Kollateralschaden, wie man ja gelernt hat. Den gibt's dann auch noch. Nein, ich glaube nicht, daß das überhaupt 'ne Rolle gespielt hat, eine politische Überlegung, daß da vor den Toren Belgrads eine Oppositionsstadt ist. Serbien wurde ja als Einheit gesehen, als ein Schurkenstaat, auch ein relativ neuer Ausdruck, der eben nun in die Knie gezwungen werden mußte, wie Herr Kinkel als Außenminister ja immer sagte.

Welche Alternativen, vielleicht in ganz kurzen Worten, welche Alternativen gibt es zur Politik der Stärke und des Diktats gegenüber Jugoslawien? Sie haben da auch mal das Modell Nordirland angesprochen.

Erstens muß man sich entscheiden. Und das ist nicht wahr, daß Diplomatie nur vor einer Machtkulisse arbeiten kann. Das ist eine Auffassung, die taktisch belegt ist, die aber nicht wahr ist. Gerade in der Zeit des Kalten Krieges hat die Diplomatie immer ohne Machtkulisse, weil sie sich aufhob, arbeiten müssen. Und ohne in der Lage zu sein, zu drohen, weil die Drohung ins Leere lief, anders zu arbeiten. Und hat viele Übereinkommen hergestellt. Also erst das vorausgeschickt. Wir müssen die Frage uns als Gesellschaft, als Gesellschaften westlicher Staaten überlegen: Wollen wir den echten Versuch machen, in einer Kooperation, in einer Zusammenarbeit, eine allen Interessen dienende Entwicklung einzuleiten? Dann geht das nur ohne Druck. Sehen Sie mal, das Geheimnis der Europäischen Union ist, daß jeder Vertragsbestandteil, jeder Neubeitritt ist nur verhandelt worden. Es ist nie gedroht worden. Es verbot sich. Und es sind hervorragende Ergebnisse erzielt worden, wie man heute ja wirklich sagen kann. So. Also mir scheint, daß das ein durchaus möglicher Weg ist, wobei ich nicht etwa sage, man muß dieses Militär abschaffen. Natürlich, Deutschland muß immer eine Armee haben, die in der Lage ist, das Land zu verteidigen. Denn natürlich gibt es jetzt im anderen Sinne Schurken in der Welt. Und es wäre fahrlässig zu sagen, ich entblöße mich meiner Verteidigungsmöglichkeit. Aber dann bitte wirklich nur Verteidigungsmöglichkeit, nicht Einsetzen der militärischen Machtmittel, um Ziele anderswo zu erreichen. Das ist ja der Unterschied. Und derzeit sind wir auf dem alten Dampfer wieder zurück, wo wir gesagt haben, ist ja einfacher mit Gewalt. Und das darf nicht passieren. Wenn es möglich ist, diese Entscheidung zu treffen, bin ich absolut sicher, daß es in Serbien Veränderungen geben wird. Vielleicht nicht die immer im Detail von uns gewünschte. Aber eine Entwicklung, die dann einem die Möglichkeit eines Stabilitätspaktes, der diesen Namen verdient, inklusive Serbien zu entwickeln. Es kann nicht an einer Person hängen. Das ist Unsinn. Und es gehört dazu, daß man berechtigte nationale Bedürfnisse mit im Auge hat. Also ganz offenkundig gibt es ein vielschichtiges kulturelles Interesse der albanischen Völker, in einem eigenen Zusammenhang zu leben. Wir haben das Beispiel Nordirland. (...) Was ist da in Aussicht genommen worden als eine neue Idee? Bringt die Interessen, die kulturellen, wirtschaftlichen, sonstigen Interessen der irischen Nation, wo immer sie lebt, in ein übernationales Gremium, in dem die beteiligten Länder und die betroffene Region sitzt und gemeinsam entscheiden, was geschehen soll. Das hat gute Ergebnisse gebracht. Wir sind im Moment in einer Schwierigkeit, aber im Prinzip ist der Prozeß positiv. Und ich hoffe sehr, und ich bin eigentlich ziemlich sicher, daß auch der letzte Schritt gemacht werden kann. Was heißt das nun für den Balkan beispielsweise? Wir haben unverkennbar eine nationale albanische Frage, die ist sogar legitim. Das hat nichts mit Nationalismus zu tun. Diese albanischen Menschen oder die albanische Nation wohnt in vielen Ländern. In Serbien, im Kosovo vor allen Dingen, in Mazedonien, im westlichen Mazedonien, in Montenegro, in dem Zipfel zu Albanien, in Albanien selber, und in Griechenland auch noch welche. Also eine Nation mit all den Schattierungen in vielen Ländern. Was ist vernünftiger als mit dem Beispiel des irischen Versuches eine übernationale Ebene zu schaffen all dieser beteiligten Staaten, mit den Albanern in all den verschiedenen Gebieten und den Regierungen, und dort werden die Fragen der Albaner zu einer Entscheidung gebracht und von all den Staaten mitgetragen. Dann haben die Albaner ihre Identität und die Bedeutung der Grenzen zwischen ihnen ist geändert. Alte Willy Brandt‘sche Forderung: Nicht Grenzen verschieben, sondern den Charakter der Grenzen ändern. Durchlässig zu machen für die Menschen. Das ist schon ein alter Vorschlag von '93 oder so, hat auch in der "Zeit" gestanden. Damals hat das keiner richtig verstehen wollen. So was wird kommen müssen. Das ist dann auch natürlich ein Modell für andere Fragen dieser Art. Also zum Beispiel die Basken in Spanien und in Frankreich, aber beide Nationalstaaten, nämlich Frankreich und Spanien, bilden keine gemeinsame Identität der baskischen Nation. Oder Ungarn und Rumänien. Oder weiß der Teufel was. Also es gibt zahllose Beispiele in Europa. Für alle ist es so ein grobes Modell. Jede Situation bedarf natürlich einer Antwort. Aber ein solches Element in den ja schon besprochenen Stabilitätspakt einzubauen, wäre eine Möglichkeit, die nationalen Bedürfnisse auch der Albaner anzusprechen und in die Nähe einer Befriedigung zu führen. Natürlich nicht mit Taci. Das ist ein Mann, der will Macht ausüben. Dem geht's nicht um kulturelle albanische Bedürfnisse. Aber mit Herr Rugova geht es. Also man muß, um es konkret zu sagen, im Kosovo nicht alles Gewicht auf Taci legen, sondern man muß es auf die demokratischen Parteien des Kosovo, nämlich mit dem Vorsitzenden, dem auch ja zwar illegalen, also nicht anerkannten Präsidenten Rugova legen. Wieso spricht Frau Allbright Herrn Taci mit Mr. Prime Minister an? Wieso nicht Herrn Rugova? Also hier sind Korrekturen in der Vorstellung des Westens nötig. Wir haben vorhin schon gesagt, natürlich muß Serbien gleichberechtigt einbezogen sein. Aber daß die Region für solche Lösungen unfähig wäre, der beste Gegenbeweis ist die Vojvodina. Da leben Serben, Ungarn und weitere 20 Nationalitäten seit langem friedlich zusammen und stehen auch gemeinsam für ihre Dinge ein. Natürlich haben sie mal ein bißchen Raufereien, wie früher die Preußen und die Bayern, aber das ist ja kein irgendwie aufregender Tatbestand. Es geht dort selbst in dieser angeblich so hinterwäldlerischen Art, als Teil in Europa, geht es sogar sehr gut. Das wäre also die Politik zusammen mit dem Stabilitätspakt, alle Beteiligten der Region. Es darf nicht von einer Person abhängen. Und dann mit der Berücksichtigung legitimer nationaler Bedürfnisse, dann ist der Nationalismus nicht mehr zu mißbrauchen für machtlüsterne Politiker, und dann wird sich auch die Opposition in Serbien durchsetzen.

Ganz kurz was zum Stabilitätspakt. Wie kann der aussehen für Jugoslawien, für Serbien?

Na ja, wie er aussieht, wie er abgeschlossen ist. Nur unter Wegfall der Ausgrenzung Serbiens und der Addition eines Elementes der kulturellen Identitäten innerhalb des ganzen Gebietes ohne Rücksicht auf nationale Grenzen. Das wäre die Notwendigkeit. Und dann, mit den vorgesehenen Mitteln, könnte ein wirtschaftlicher Aufbau geschehen mit den schon aufgeschriebenen Grundsätzen. Die Aufgabe der Projekte soll sein, das zwischenstaatliche Leben innerhalb der Region zu fördern. Also nicht die Separation der einzelnen Staaten untereinander, sondern die Zusammenarbeit dieser Staaten. Jetzt ist die Situation ja so: jeder will für sich nach Europa, aber nichts mit dem Nachbarn zu tun zu haben. Das ist natürlich kein Zugang zu Europa, sondern erst muß man nachbarschaftlich miteinander hinkommen, dann kann man in Europa was werden. Also deutsch-französische Aussöhnung war notwendig, bevor man die Europäische Gemeinschaft gründen konnte. So muß sich also der eine Staat mit dem anderen Staat in dieser Region auf einen Modus vivendi einigen. Und dann kann man gemeinsame Wege nach Europa finden. Ich hoffe, daß Herr Mesic – kein Nationalist, ein Mensch, der die ganze Region kennt, verantwortlich kennengelernt hat – einer ist, der so was mit auf den Weg bringen könnte. Ich sehe, das ist eine Möglichkeit. Nur man muß es auch entsprechend dann in Europa wollen. Und den Balkan nicht nur als Bühne betrachten, auf der andere Stücke gespielt werden, die mit der Region gar nichts zu tun haben.

Ihre persönliche Meinung zum Embargo. Wem nützt dieses Embargo eigentlich und wem schadet es?

Ja, es schadet erstens den Menschen, und es nützt Milosevic. Denn die Bunker-Mentalität tradiert sich. Und völlig eindeutig. Wenn es freien Aus- tausch mit anderen Ländern gäbe – nicht nur Reiseverkehr, sondern auch zwischen den Universitäten, zwischen den Rundfunk- und Fernsehanstalten und, und, und... – hätte es Herr Milosevic mit seiner Partei garantiert sehr viel schwerer. Aber wenn man Serbien als Paria behandelt, als Schurkenstaat, alle Einwohner in Geiselhaft nimmt, dann darf man sich einen solchen Prozeß nicht erwarten.

Was kann der Westen unternehmen, was können wir Deutsche unternehmen, konkret unternehmen an Schritten, um die demokratische oppositionelle Bewegung in Jugoslawien / Serbien tatkräftig zu unterstützen?

Ja, ich glaube, wir sollten nicht darauf aus sein, daß wir die eine oder die andere Partei jetzt fördern. Damit werden sie diskreditiert. Nein, wir müssen eine ganz andere Grundhaltung gegenüber dem Land einnehmen. Und ich bin ganz sicher, Serbien und die anderen Republiken Jugoslawiens... – aber gerade Serbien ist ja ein sehr Europa-offenes Land immer gewesen. Also jeder auch nur einigermaßen am gesellschaftlichen Leben teilnehmende Bewohner in Belgrad sprach zum Beispiel Französisch, auch Englisch. Aber was bei uns das Bürgertum ist, sprach natürlich Französisch. Selbstverständlich. Wir haben in Belgrad Theatertreffen, internationale Theatertreffen erlebt, wo ich als Botschafter Angst hatte, ob das deutschsprachige Theaterstück der "Schaubühne" verstanden werden würde. Das Theater war knackenvoll, und die Reaktion zeigte: die Leute konnten Deutsch. Sie haben es verstanden. Serben, nicht importierte Deutsche. Also hier gab es vielfältigste kulturelle, tief empfundene kulturelle Beziehungen, und die müssen sich auch wieder etablieren lassen. Aber man muß mit dieser fürchterlichen Verächtlichmachung und dieser völlig ungerechtfertigten Aussätzigenpolitik muß man aufhören. Die Politik Milosevics ist viel mehr eine Reaktion auf diese Dinge als daß es der Grund sei. Und das muß man umkehren. Und ich bin weiß Gott kein Freund von Herrn Milosevic, ich halte sehr viel von – beispielsweise von dem Bürgermeister in Novi Sad und von anderen, aber bevor diese Trendwende bei uns nicht geschieht, wird es dort am Ort sehr schwer werden, wirklich einen Teil Europas zu bilden.

Können die Veränderungen in Kroatien vielleicht auch Veränderungen jetzt in Jugoslawien hervorrufen?

Ja, sicher. Sicher, wie ich vorhin andeutete. Und richtig verstanden, bitte sehr, diese Entwicklung in Kroatien haben wir auch nicht durch Androhung von Gewalt herbeigeführt, sondern sie ist aus dem Land selber entstanden. Und man soll sich nicht täuschen, Menschen sind anders im Balkan wie in der Normandie oder in Norwegen. Tuzman mußte erst sterben. Aber das sagt nichts darüber, daß der Tuzmann die Gefolgschaft seiner Menschen, die er mal hatte, schon lange verloren hat. Hatte. Und ich bin ziemlich sicher: welcher Kandidat es auch geworden wäre, ob Stipe Mesic oder Budica, beide hätten – wären diesen Weg gegangen, den jetzt Mesic voraussichtlich geht. Ich kenne ihn ja noch aus ganz alten Zeiten, wo er als junger kroatischer Minister noch zu Titos Zeiten tätig war.

Danke schön.

Februar 2000

Horst Grabert war Chef des Kanzleramts bei Willy Brandt und 1979 bis 1984 Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Jugoslawien.

Das Interview führte Robert Krieg.
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