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Dokumentarfilm als kritische Zeitchronik

Nehmen wir einmal an, der Film wäre 100 Jahre früher erfunden worden, und stellen wir uns vor, Vincent van Gogh hätte keine Bilder gemalt, sondern Filme gedreht, dann würden heute vermutlich nicht seine Werke für astronomische Summen den Besitzer wechseln, denn dann gäbe es diese Werke überhaupt nicht, und Vincent van Gogh wäre als der unbekannte, einsame, von Existenzangst geplagte Künstler in Vergessenheit geraten, der er zu Lebzeiten war! Wer hätte einem Hungerleider namens van Gogh das Geld gegeben, um seine Filme zu finanzieren?

Ein falscher Vergleich? Mitnichten, sondern das Zurechtrücken eines in Schieflage geratenen Bildes. Film ist, und das kann zur Zeit gar nicht oft genug wiederholt werden, eben auch Kunst – das zeitgenössische Abbild der kulturellen und moralischen Befindlichkeit einer Gesellschaft. Die hohen Entstehungskosten von Film sind kein Argument für kommerziellen Erfolg. Der Film als Kunstgattung muß auch weiterhin für die Unabhängigkeit vom kommerziellen Partner, d.h. die Unabhängigkeit vom zahlenden Besucher, streiten. Gerade weil das künstlerische Produkt Film so viel mehr Geld verschlingt, als ein einzelner Künstler aufzubringen vermag, sind ähnlich wie bei Museen, Theaterhäusern und Konzertsälen angemessene Subventionen der öffentlichen Hand notwendig, andernfalls ist die Freiheit der Kunst in ihrem Bestand gefährdet.

Als Dokumentarist sehe ich es als eine bedeutende Aufgabe des Filmbüros an, den Dokumentarfilm als ein Genre des künstlerischen Films zu fördern. Denn allein von Eintrittsgeldem kann der Dokumentarfilm nicht überleben, und das Fernsehen betreibt "Etikettenschwindel", wie Elmar Hügler schreibt, wenn es von Dokumentarfilm spricht, tatsächlich aber Feature oder Dokumentation meint. Ich selbst habe jahrelang Dokumentationen, Features und Magazinbeiträge für das Fernsehen gemacht und weiß aus eigener Erfahrung, was es heißt, eine Geschichte sich nicht aus sich selbst heraus entwickeln lassen zu dürfen, mit allen Abweichungen, die das Geschehen vor Ort mit sich bringt, sondern die vorgefundenen Fakten der einmal gefaßten Idee oder These unterordnen zu müssen, will man nicht mit dem Kästchendenken, dem Sendeschema der Programm-Macher oder der Zwangsjacke Sendezeitbegrenzung kollidieren. Die bewegten Bilder und Töne dienen dann eigentlich nur noch als Folie, auf der der Autor seine Sicht der Dinge gewöhnlich in der Form des Kommentars vorträgt.

Dabei entsteht leider allzu oft "eine schale, nach vorgefaßter Meinung konstruierte Welt" (Elmar Hügler).

"So müssen wahrhafte Erinnerungen viel weniger berichtend verfahren, als genau den Ort bezeichnen, an dem der Forscher ihrer habhaft wurde. Im strengsten Sinn episch und rhapsodisch muß daher wirkliche Erinnerung ein Bild zugleich von dem, der sich erinnert, geben, wie ein guter archäologischer Bericht nicht nur die Schichten angeben muß, aus der seine Fundobjekte stammen, sondern jene anderen vor allem, welche vorher zu durchstoßen waren." (Walter Benjamin)

Diese Sätze Walter Benjamins sind aktueller denn je, denn der Zeitgeist hat es darauf angelegt, die Erinnerung auszulöschen, ihr die Lebendigkeit abzusprechen. Wir befinden uns in einem nicht erklärten "Krieg um Zeit" (Paul Virilio), der das Moment des Verharrens, des Besinnens mit allen Mitteln bekämpft. Mit seinem feinen Gespür für den Erhalt der Macht hat der schwarze Riese aus Oggersheim das kollektive Gedächtnis als ärgsten Widersacher seiner rücksichtslosen Einverleibungspolitik erkannt. Mit einem durch nichts zu begründenden, ungeheuerlichen Zeitdruck soll verhindert werden, daß die Erinnerung, das gelebte Wissen als Korrektiv eingreifen könnten und eine Atempause entstünde, in der die vom mainstream abweichenden Meinungen überhaupt noch wahrgenommen werden würden. Erinnern ist nichts Rückgewandtes, sondern Schöpfen aus der Geschichte, um die Zukunft im Hier und Heute zu vergegenwärtigen. Schon einmal ist die "Stunde Null" dazu mißbraucht worden, die Vergangenheit zu tabuisieren.

Dokumentarfilmarbeit ist Gedächtnisarbeit. Wenn es so etwas wie das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft gibt, dann hat der Dokumentarfilm hier seinen angestammten Platz. Die lange Beobachtung, die Erforschung der Hintergründe, die prozeßhafte Aneignung von Wirklichkeit, die Verschränkung von Bildern und Tönen in elaborierter Montagetechnik, die nicht nur streng logisch, sondern auch assoziativ vorgeht und ähnlich wie das Bewußtsein verschiedene Wahrnehmungsebenen miteinander verkettet, lassen im Kopf neue Bilder und Zusammenhänge entstehen. Ähnlich wie jede Erzählung, jeder Roman ebenso viele neue und unterschiedliche Geschichten und Sichtweisen im Kopf entwerfen, wie sie Leser finden, setzt der Dokumentarfilm einen kreativen Prozeß in Gang, der nicht im kognitiven Bereich stehenbleibt, sondern zum Weiterdenken anregt. Die offenbar als riskant empfundene, da unberechenbare Muße der Kontemplation ist der Ort, an dem sich die Erinnerung mit der Zukunft verschränkt. Letztlich beschreibe ich hier nichts anderes als einen Wesenszug, ohne den der Mensch nicht in die Geschichte eingetreten wäre: seine Phantasietätigkeit. Dokumentarfilmarbeit ist auch Phantasiearbeit. Phantasie kann sich nicht von selbst regenerieren, sie bedarf des Anschubs von außen, sonst sind irgendwann ihre Ressourcen erschöpft.

Wenn der Dokumentarfilm als kritische Zeitchronik die Phantasie des Menschen, die Mythen, die privaten Glücksvorstellungen, die wissenschaftlichen Entwürfe, Kunstwerke und politischen Utopien begleitet und reflektiert, dann muß er sich auch ständig auf die Suche nach neuen Ausdrucksformen begeben, die sich weder auf Formate oder Technologien der filmischen Gerinnung festlegen lassen, noch auf eine bestimmte Erzählweise und Dramaturgie. Allzulange ist im Neuen Deutschen Film Aufklärung mit politischer Didaktik verwechselt worden. Die Zukunft des Dokumentarfilms liegt in der Poesie seiner Bilder, der Fähigkeit, Fragen stellen zu können, der Sinnlichkeit seines Erzählflusses, der die Individualität des einzelnen Menschen berücksichtigt und ihn nicht zur Staffage einer politischen Botschaft degradiert.

Der Dokumentarfilm als Genre kann weder auf die kulturelle Filmförderung noch auf das Fernsehen als am häufigsten rezipiertes Medium verzichten. Ich teile den unter KollegInnen häufig anzutreffenden Kulturpessimismus nicht, der mit der massenhaften Verbreitung immer neuer Fernsehkanäle einhergeht. Die sich ständig erweiternden Sendekapazitäten verschaffen dem künstlerischen Film neue Plazierungsmöglichkeiten, und auch der Zuschauer wird wählerischer werden und einen Blick dafür entwickeln, was aus der Programm-Einheitssoße herausragen wird.

Robert Krieg

Aus: Zehn Jahre Filmbüro NW. Eine Veröffentlichung des Filmbüros NW e.V., September 1990.
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