Startseite – Texte – Zu Paul Wulf –

Die nicht vorhersehbare Spätentwicklung des Paul W.

Wiedergutmachung eines Zwangssterilisierten im Nachkriegsdeutschland

Fassungslos steht die etwa 65jährige Frau, ganz in Schwarz gekleidet, adrettes Hütchen auf dem Haar, vor der Bildtafel und liest immer wieder den Text. "Also das kann ich nicht glauben, daß Dr. Schlaaff so etwas gemacht hat. Ich bin seit dreißig Jahren Presbyterin, mein Vater war Mitglied der Bekennenden Kirche, ich habe zwanzig Jahre lang bei Dr. Schlaaff im Haushalt gearbeitet, also da hätte ich ja etwas merken müssen, wenn der so etwas gemacht hätte!" Was sie nicht glauben kann, hängt als Faksimile eines amtlichen Dokuments vor ihr: die genau geführte Liste der Zwangssterilisationen des Evangelischen Krankenhauses in Lippstadt, dem ihr Brötchengeber als Chefarzt vorstand. Die medizinischen Verbrechen, die unter dem Deckmantel der Erbgesundheitslehre begangen wurden, erzeugen trotz des Wissens um den nationalsozialistischen Holocaust eine besondere Fassungslosigkeit und Ungläubigkeit.

(Szene aus dem Videofilm "Die nicht vorhersehbare Spätentwicklung des Paul W.", 45 Min., von Robert Krieg, Dagmar Wünneberg, Paul Wulf.)

Das nationalsozialistische Regime war noch kein halbes Jahr an der Macht, als am 14.7.1933 das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" verabschiedet wurde. § 1, Abs. 2 und 3 definiert die Betroffenen: "Erbkrank im Sinne dieses Gesetzes ist, wer an einer der folgenden Krankheiten leidet: angeborenem Schwachsinn, Schizophrenie, zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein, erblicher Fallsucht, erblichem Veitstanz, erblicher Blindheit, erblicher Taubheit, schwerer körperlicher Mißbildung. Ferner kann unfruchtbar gemacht werden, wer an schwerem Alkoholismus leidet. "

Mit explizitem Hinweis auf die Hilfsschüler trat das Gesetz am 1.1.1934 in Kraft. Erbgesundheitsgerichte wurden eingerichtet, die für die Durchführung der Sterilisationsverfahren zuständig waren und Sterilisationen auch zwangsweise anordnen konnten. Wenn auch die Anwendung dieses Gesetzes gleich in den beiden ersten Jahren nach Inkrafttretung ihren Höhepunkt erlebte und die damit verbundenen Restriktionen sich ab 1938 bereits wieder lockerten – hier mögen die verstärkten Kriegsvorbereitungen und die damit verbundene Besinnung auf die militärische bzw. wirtschaftliche Brauchbarkeit der anvisierten Bevölkerungsgruppen eine Rolle gespielt haben – können wir die Gesamtzahl der Zwangssterilisationen auf 350.000 schätzen; soweit statistisches Material vorliegt, wurde bei etwa 50 Prozent der unfruchtbar zu machenden Patienten "Schwachsinn" diagnostiziert. Einer derjenigen, denen "angebotener Schwachsinn" bescheinigt wurde, ist Paul W., ein engagierter Antifaschist. Mit sechzehneinhalb Jahren ist er zwangssterilisiert worden und leidet bis heute unter diesem unmenschlichen Eingriff. Wir lernten uns Anfang der siebziger Jahre kennen. 1979 verarbeiteten wir die Geschichte seiner persönlichen Verfolgung, seinen Kampf um Wiedergutmachung und Aufklärung über vergessene nationalsozialistische Verbrechen in einem Dokumentarfilm. Verarbeitung hat hier eine doppelte Bedeutung: Die traumatische Erfahrung der Zwangssterilisation im jugendlichen Alter, die damit verbundene Sonderbehandlung als "Schwachsinniger" und der weitgehende Ausschluß aus schulischer, beruflicher und sozialer Weiterbildung verursachten derartig schwerwiegende psychische Defizite, daß es Paul W. vorher nicht gelungen war, die bruchstückhaften Erfahrungen seiner eigenen Verfolgung zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen und seine Biographie als Produkt der sozialmedizinischen Variante nationalsozialistischer Terrorherrschaft zu begreifen. Die eigene Betroffenheit als eine Antriebsfeder seines öffentlichen Auftretens gegen Faschismus und Unterdrückung blieb hinter seinem Engagement verborgen. Seine Aufklärungsarbeit wirkte oft unsystematisch, weil er sie über alle Bereiche nationalsozialistischer Zwangsherrschaft erstreckte, anstatt von seiner eigenen Geschichte auszugehen und die Verfolgung sogenannter "Erbkranker" ans Tageslicht zu holen. Die "Ausmerze" als beherrschender Gedanke nationalsozialistischer Sozialmedizin zeigt sich hier in besonders perfider Weise: Sie grub sich so tief in die Köpfe der Opfer ein, daß letztere sie kaum noch in Frage zu stellen vermögen, soweit es ihre eigene Person betrifft. Sofern sie in der Konsequenz daraus und durch die kontinuierlich am eigenen Leib erfahrene gesellschaftliche Ächtung noch nicht mundtot genug gemacht worden sind – das trifft für den absolut überwiegenden Teil der heute noch lebenden Opfer zu – tragen sie ihren Wunsch nach Genugtuung und Wiedergutmachung für erlittenes Unrecht meist nur in einer allgemeinen, von den eigenen Erfahrungen weitgehend abstrahierten Anklage vor.

Das Schicksal Paul W.s ist typisch für Zwangssterilisierte. An seiner Biographie wird die Kontinuität eugenischen Gedankenguts deutlich: daß es den Zusammenbruch des "Dritten Reiches" überdauerte und zunehmend Eingang findet in die aktuelle Planung sozialmedizinischer Präventions- und Interventionsstrategien.

Aufgrund katastrophaler ökonomischer Verhältnisse seit 1928, seinem siebten Lebensjahr, der öffentlichen Erziehung preisgegeben, war Paul W. als Fürsorgezögling prädestiniert für den Zugriff der ab 1934 lückenlos und unerbittlich funktionierenden "rassehygienischen" Maßnahmen. Als seine Eltern 1937 einen Antrag auf Entlassung aus der Anstalt Niedermarsberg stellten, teilte ihnen die Anstaltsleitung mit, daß einer Entlassung nur in Verbindung mit der Sterilisation zugestimmt werden könne. Anläßlich der Filmarbeiten erinnerte sich die Mutter: "Dann haben wir einen Bescheid gekriegt, daß wir zu den Herren Ärzten kommen sollten... Darum, – lieber das... als in die Gaskammer, habe ich gesagt. Das hab' ich gesagt. Mehr konnte ich auch nicht sagen." Nachdem der Anstaltsarzt "angeborenen Schwachsinn ersten Grades" diagnostiziert hatte, ordnete das Erbgesundheitsgericht in Arnsberg am 5.1.1938 nach fünfminütiger Verhandlung die zwangsweise Sterili-sation an.

Auf Betreiben von Paul W. hob das Amtsgericht Hagen in einem Wiederaufnahmeverfahren am 6.2.1950 den Beschluß des Erbgesundheitsgerichtes wieder auf. In der Begründung heißt es: "Nach der durchgeführten Intelligenzprüfung ist das Gericht zu der Überzeugung gelangt, daß der Antragsteller nicht an angeborenem Schwachsinn leidet Der Antragsteller war in der Lage, flüssig zu lesen. Er rechnete die ihm gestellten Rechenaufgaben richtig aus und zeigte sich auch sonst gut orientiert. Mit Rücksicht auf das Ergebnis der Intelligenzprüfung hat das Gericht geglaubt, von der Beiziehung eines fachärztlichen Gutachtens und weiteren Ermittlungen hinsichtlich der Lebensbewährung Abstand nehmen zu können. Der Antragsteller hat sich offenbar spät entwickelt und die Entwicklung ist für ihn so günstig verlaufen, daß die Diagnose angeborener Schwachsinn nicht mehr aufrechterhalten werden kann."

Obwohl das Gericht die Haltlosigkeit des Urteils "angeborener Schwachsinn" feststellte, baute es gleichzeitig vorsorglich eine Argumentation gegen etwaige Wiedergutmachungsansprüche auf: der Antragsteller sei offenbar ein Spätentwickler. Noch unverblümter fiel dementsprechend wenig später die Ablehnung eines Scha-densersatzanspruches durch das gleiche Gericht aus. Obwohl es explizit darauf hinwies, daß von der sonst üblichen Praxis der Einholung eines psychiatrischen Gutachtens im Fall Paul W. abgewichen werden konnte, da die durch das Gericht vorgenommene Intelligenzprüfung ein derart günstiges Bild ergab, zog es sich hinter den formaljuristischen Grundsatz zurück, daß das frühere Erbgesundheitsgericht im Rahmen der damals geltenden gesetzlichen Bestimmungen gehandelt habe: "Die früher durch den Anstaltsarzt der Provinzialheilanstalt Marsberg, Dr. Schneider, gestellte Diagnose 'angeborener Schwachsinn' (ersten Grades!) rechtfertigte die Anordnung der Unfruchtbarmachung. Bei dem Antragsteller ist dann allerdings eine nicht vorhersehbare günstige Spätentwicklung eingetreten, so daß die Diagnose nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Erfahrungsgemäß behaupten die Betroffenen, durch die Unfruchtbarmachung körperliche Schäden, die zur Arbeits-unfähigkeit oder Arbeitsbehinderung geführt haben sollen, erlitten zu haben. Die Erfahrung des Wiederaufnahmegerichts lehrt, daß diese körperlichen Schäden durchweg simuliert werden. "

In diesem Ablehnungsbescheid finden sich bereits die drei entscheidenden Passagen, die allen späteren Ersuchen um Wiedergutmachung entgegengehalten wurden: 1.) habe das Erbgesundheitsgericht im Rahmen geltenden Rechts gehandelt, da das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses in rechtmäßiger Form zustandegekommen sei; 2.) wird die ärztlich gestellte Diagnose "angeborener Schwachsinn" grundsätzlich nie infragegestellt, und 3.) seien die von den Antragstellern anhängig gemachten Beeinträchtigungen als Folge von Zwangssterilisation durchweg simuliert.

Die Rechtsgültigkeit des "Erbgesundheitsgesetzes"

Die gerichtliche Feststellung seines 'Normalseins' ermutigte Paul W., weitere Verfahren anzustrengen mit dem Ziel der Wiedergutmachung durch finanzielle Entschädigung. Am 19.3.1955 lehnte das Dezernat für Wiedergutmachung des Regierungspräsidenten in Münster den Entschädigungsantrag mit der Begründung ab, daß die Sterilisation aufgrund einer Diagnose und nicht aufgrund einer Verfolgung an-geordnet und durchgeführt worden sei. Folgt man dieser Argumentation, so haben Zwangssterilisierte keinen Anspruch auf Entschädigung, da sie nicht aus rassischen oder religiösen Gründen verfolgt worden seien, sondern auf der Grundlage eines rechtlich einwandfreien Verfahrens – die Diagnose wurde zuvor eingeholt – der zwangsweisen Sterilisation unterworfen wurden. Hier wird der untaugliche Versuch unternommen, zwischen 'guter' und 'böser' Eugenik zu unterscheiden. Die böse historische Variante ist gemeinhin bekannt und öffentlich sanktioniert: Die Verfolgung von Rassen und Religionen gilt als schlecht und verwerflich. Nicht jedoch die Sterili-sation als Maßnahme zur Verhinderung der Ausbreitung "ungünstiger Erbanlagen" und "Erblinien". Dabei steht hinter beiden Varianten der gemeinsame Gedanke der "Ausmerze rassisch minderwertigen Materials" mit dem Unterschied, daß im zweiten Fall auch die eigene "Rasse" gemeint ist.

Noch differenzierter ist der juristische Standpunkt in einem Bescheid der Oberfinanzdirektion Münster. Paul W. hatte hier Ansprüche auf der Grundlage des am 5.11.1957 verabschiedeten "Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes" geltend gemacht. Die zuständige Oberfinanzdirektion verwarf die Ansprüche mit der Begründung: "In der deutschen höchstrichterlichen Rechtsprechung der Nachkriegszeit, z. B. in einer Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamm vom 29.1.1954, ist festgestellt worden, daß das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses in gesetzmäßiger Form zustandegekommen war und gültiges Recht darstellte. In dieser Entscheidung ist ausgeführt, daß das Gesetz nicht gegen Natur- und Menschenrechte oder gegen rechtsstaatliche Grundsätze verstieß und daß Gesetze ähnlichen Inhalts in anderen Kultur- und Rechtsstaaten auch heute noch gelten." Auch die Aufhebung des Sterilisationsbeschlusses im Wiederaufnahmeverfahren ändert daran nichts, denn "damit steht bestenfalls fest, daß die Unfruchtbarmachung auch nach dem damals geltenden Recht objektiv rechtswidrig angeordnet worden ist. Um daraufhin Ansprüche aus unerlaubter Handlung gegen den Staat herzuleiten, müßte hinzukommen, daß ein nach § 839 BGB als Amtspflichtverletzung zu beurteilendes Verschulden des Erbgesundheitsgerichts festzustellen wäre. Ausreichende Anhaltspunkte dafür, daß hier ein entsprechend nachweisbares Verschulden des Erbgesundheitsgerichts – insbesondere auch als ein solches im Sinne des § 839 Abs. 2 BGB, d. h. eine vorsätzliche Rechtsbeugung – zu bejahen ist, liegen nicht vor." Sehen wir einmal von dem feinsinnigen Attribut "bestenfalls" ab – dahinter verbergen sich nur mühsam die Zweifel an der gerichtlichen Aufhebung des medizinisch diagnostizierten Schwachsinns -, so wird hier der gesamte Kontext der Verfolgung und Vernichtung von "rassischer Minderwertigkeit" mit dem dürren Verweis auf das rechtmäßige Zustandekommen des Erbgesundheitsgesetzes vom Tisch gewischt. Unrecht ist nur dort begangen worden, wo die Nazis gegen ihre eigene Rechtsprechung verstoßen haben. Wer eine Rechtsbeugung der nationalsozialistischen Gesetzgebung nicht nachweisen kann, der hat auch keinen Anspruch auf Wiedergutmachung. Die Unhaltbarkeit der Diagnose "angeborener Schwachsinn" stellt keine Rechtsbeugung dar, da ein unrechtmäßiges Zustandekommen der Diagnose nicht bewiesen werden kann. Im Strickmuster von Justiz und Medizin fallen die Betroffenen als Masche geräuschlos auf den Boden der Rechtlosigkeit.

Eine zusätzliche Argumentationsebene entwickelte das Amt des Regierungspräsidenten Köln in einem Bescheid vom 30.9.1963. Paul W. hatte zuvor erneut einen Antrag auf Entschädigung gestellt, diesmal auf Grundlage des "Bundesentschädigungsgesetzes" vom 29.6.1956, das den Ausgleich von sogenannten "Sonderopfern" vorsieht. Nach Ansicht des Regierungspräsidenten Köln war Paul W. durch die rechtswidrige Sterilisation kein Sonderopfer auferlegt worden, was die Voraussetzung für eine Entschädigung im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes gewesen wäre. Das Amt berief sich auf ein entsprechendes Urteil des Bundesgerichtshofes vom 19.2.1962: "Der Bundesgerichtshof geht bei seiner Entscheidung davon aus, daß die Anordnung der Sterilisation auf einem urteilsvertretenden Beschluß beruhte. Ein solcher Beschluß müsse, auch wenn er objektiv unrichtig sei, nach Rechtskraft von den Staatsbürgern hingenommen werden. Der damit evtl. verbundenen Gefahren- und Opferlage sei jeder Bürger unterworfen. Dieses Opfer unterscheide sich nicht von dem, das jeder andere auch erbringen muß, dessen Rechte durch ein objektiv unrichtiges Urteil und die dem Gemeininteresse dienende Rechtskraft dieser Entscheidung verkürzt würden."

Die Ungeheuerlichkeit verbirgt sich hinter dem Zustimmung heischenden Begriff "Gemeininteresse". Während vorher die Rechtsgültigkeit der Sterilisations-Gesetzgebung betont worden war, ohne Berücksichtigung der inhaltlichen Seite, ging der Bundesgerichtshof in seinem Urteil vom 19.2.1962 einen Schritt weiter und rechtfertigte die nationalsozialistische Rechtsprechung, indem er dieser eine dem Gemeininteresse dienende Rechtskraft zubilligte. Nicht nur, daß die Rechtsgültigkeit des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" nicht anzuzweifeln sei, nein, – dieses Gesetz, das den Auftakt zur systematischen Verfolgung und Ausrottung von "rassisch minderwertigem und lebensunwertem Leben" bildete, diente dem Gemeininteresse. Auch den weiteren Ausführungen des Bescheids liegt die Rechtsinterpretation des Erbgesundheitsgesetzes zugrunde. Zwar wird zugestanden, daß der Verlust der Zeugungsfähigkeit als schwerer Schicksalsschlag zu betrachten sei: "Diese psychische Nebenwirkung und die aus ihr entstehenden Folgen liegen aber im Rahmen des vom Gesetzgeber gewollten bzw. in Kauf genommen Opfers. Das Erbgesundheitsgesetz sah nur in einem beschränkten Umfang Ersatzansprüche vor... Das Gesetz mutete allen Betroffenen zu, die sonstigen allgemeinen und regelmäßigen Folgen des Eingriffs – auch hinsichtlich ihres Wohlbefindens, ihres Familiensinnes und ihrer persönlichen Schicksalsgestaltung – ohne jede Entschädigung hinzunehmen." Auch für die Definition des Sonderopfers wird das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" als Maßstab genommen: "Aus der Tatsache, daß das Gesetz eine abschließende Entschädigungsregelung getroffen hatte, folgt aber, daß weitergehende Ansprüche ausgeschlossen sein sollten."

Dies ist der Schlußpunkt einer juristischen Argumentation, mit der in der Nachkriegsära den Opfern der Zwangssterilisation ihr Recht auf Entschädigung abgesprochen wurde. Folgen wir dieser Jurisdiktion, so können wir feststellen, daß der Dreh- und Angelpunkt die grundsätzliche Akzeptanz des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" ist. Unbekümmert von dem historischen Wissen um die rassenpolitische Dimension dieses Gesetzes, das auf das engste mit der nazistischen Rassenlehre verknüpft war, zieht sich die Justiz dahinter zurück, daß es in gesetzmäßiger Form zustandegekommen sei und nicht gegen Natur- und Menschenrechte oder gegen rechtsstaatliche Grundsätze verstoßen habe. In der Tat ist dieses Gesetz kein typisch nationalsozialistisches Gesetz. Gerade die SPD war in der Weimarer Republik eine Hauptverfechterin des Sterilisationsgedankens. Das sozialdemokratische Reichstagsmitglied, Staatsanwalt Dr. Hoegner, schrieb am 1.3.1931 in einem Beitrag für die Dortmunder Volkszeitung, daß die sozialdemokratischen Mitglieder des Strafrechtsausschusses des Reichstages den Antrag gestellt hätten, gefährliche Gewohnheitsverbrecher sterilisieren zu lassen. Die Begründung dafür hätte wortgleich ein nationalsozialistischer Abgeordneter abfassen können: "In den letzten Jahrzehnten hat nun die Vererbungswissenschaft ermittelt, daß auch die individuelle Veranlagung des Täters, z. B. eine schlechte Erbmasse, die er von seinen Vorfahren übernommen hat, von erheblichem Einfluß auf die Straffälligkeit sein kann. 'Schlechte Erbanlagen' äußern ungünstige Wirkungen bei den Nachkommen und führen bei ihnen eine verstärkte Disposition zur Begehung von Verbrechen herbei... Besonders bösartig liegt der häufige Fall, daß schlechte soziale Verhältnisse mit schlechten Erbanlagen zusammentreffen."

Mit dieser Rückendeckung bis weit ins bürgerliche, aber auch sozialistische Lager konnte die Nachkriegsjustiz die zwangsweise Massensterilisation von 350.000 Menschen auf einen Akt der "vorbeugenden Gesundheitsfürsorge" reduzieren, "wie sie auch heute noch in anderen Staaten (Schweden, Irland, Kanada und einigen Staaten der USA) gesetzlich verankert sei" (vgl. die Entscheidung des OLG Hamm in: NJW 1954/559). Natürlich sind, wie in jedem Rechtsstaat, Justizirrtümer möglich. Diese können aber nur geahndet werden, wenn eine Pflichtverletzung im Sinne von Rechtsbeugung von seiten des urteilenden Gerichts nachweisbar wäre. Wenn nun der Antragsteller darauf insistiert, daß ihm durch die rechtswidrige Sterilisation ein Sonderopfer auferlegt worden sei, so muß er persönliche Folgen angeben können, die außerhalb der Opfer liegen, die das Erbgesundheitsgesetz den Betroffenen von vorneherein auferlegte. Beschlüsse, auch objektiv unrichtige, müßten, soweit sie auf rechtskräftigen Gesetzen beruhten – dazu gehört nach Ansicht der Justiz das Erbgesundheitsgesetz –, von den Staatsbürgern hingenommen werden. Der verfassungsmäßige Grundsatz der Gleichbehandlung sei gewahrt gewesen, da das vom Gesetz gewollte Opfer einem unbestimmten Personenkreis auferlegt worden sei, bei dem ein gleichartiger gesetzlicher Tatbestand zur gleichen Pflichtenlage geführt habe.

Dieser Rechtspositivismus bezieht seine Unanfechtbarkeit aus seiner rechtsimmanenten Beweisführung: Zur Disposition steht nur die formelle Seite des Gesetzes, niemals die inhaltliche. Stützen kann er sich dabei auf die allgemein akzeptierte staatsrechtliche Einsicht, daß für die Gültigkeit eines Gesetzes die formelle Gesetzeskraft genüge und eine für alle Staatsbürger verbindliche Kraft auslöse. Die Alternative wäre ständige Rechtsunsicherheit, Willkür und schließlich die Zerstörung eines auf einer Rechtsgrundlage aufgebauten Gemeinschaftslebens. Diesen Rechtspositivismus auf einer rechtsimmanenten Ebene anzugreifen führt zu nichts. Der Rechtspositivismus endet genau dort, wo der Staat niemals die alleinige Quelle allen Rechts ist. In ihrer Urteilsbegründung gegen Ärzte, Pflegepersonal und Angestellte der "Euthanasie"anstalt Hadamar ging die 4. Strafkammer des Landgerichts Frankfurt 1974 ausführlich auf die Dialektik von Staats- und Naturrecht ein: "Es gibt ein über den Gesetzen stehendes Recht, das allen formalen Gesetzen als letzter Maßstab dienen muß. Es ist das Naturrecht, das der menschlichen Rechtssatzung unabdingbare und letzte Grenzen zieht. Es gibt letzte Rechtssätze, die so tief in der Natur verankert sind, daß sich alles, was als Recht und Gesetz, Moral und Sitte gelten soll, im letzten nach diesem Naturrecht, diesem über den Gesetzen stehenden Recht auszurichten hat. Diese letzten Rechtssätze im Naturrecht sind zwingend, weil sie unabhängig vom Wandel der Zeit und vom Wechsel menschlicher Anschauung durch die Jahrtausende gegangen sind und über alle Zeiten hinweg den gleichen Bestand und die gleiche Gültigkeit besitzen."

Der bundesdeutsche Nachkriegsstaat hat bei der Ablehnung der von den Zwangssterilisierten erhobenen Ansprüche die rechtsimmanente Ebene nicht verlassen, da die bürgerlichen Kräfte, die ihn neu formiert haben, maßgeblich an der materiellen Begründung des Sterilisationsgesetzes beteiligt waren. Im Fall von Paul W. ist die medizinische Diagnose "Schwachsinn" analog zur positivistischen Rechtsauffassung als gegeben betrachtet worden. Abweichungen sind nur verständlich aufgrund einer Veränderung der Ausgangssituation. Für Paul W. bedeutet dies, daß die frühere Diagnose "angeborener Schwachsinn ersten Grades" aufgrund einer veränderten Ausgangslage, nämlich der "nicht vorhersehbaren Spätentwicklung", nicht mehr aufrechterhalten werden konnte. Das ändert jedoch nichts an der prinzipiellen Richtigkeit der früher gestellten Diagnose, denn deren maßgebliche Konstanten werden durch eine veränderte Ausgangssituation nicht in Frage gestellt: das bereits von Staatsanwalt Hoegner beobachtete, bösartige Zusammentreffen von schlechten sozialen Verhältnissen und "schlechten Erbanlagen". Das Visier ist gerichtet: Im Schußfeld liegt das Proletariat.

Die Unfehlbarkeit der medizinischen Diagnose

Die medizinische Argumentation setzt an jenem Punkt ein, an dem Paul W. die juristische Ebene verläßt und auf der Grundlage der erlittenen schweren körperlichen und psychischen Schäden um Berufsunfähigkeitsrente klagt. Paul W. hatte während der fünfziger und sechziger Jahre mit kurzen Unterbrechungen bei verschiedensten Arbeitgebern als Hilfsarbeiter gearbeitet. Die tiefe Enttäuschung über den Nach-kriegsstaat, der eingefleischte Nationalsozialisten trotz ihrer Vergangenheit wieder in seine Dienste genommen hatte, während die eigenen Bemühungen um Rehabilitation erfolglos blieben, verbitterten ihn zunehmend. Seine Recherchen in Archiven, in denen Dokumente aus dem "Dritten Reich" aufbewahrt werden, verschafften ihm ein Bild darüber, wie weitreichend Polizei, Justiz, Sozialmedizin und staatliche Verwaltungsapparate in den beiden ersten Jahrzehnten westdeutscher Nachkriegsgeschichte von ehemaligen Funktionsträgern des "Dritten Reichs" durchsetzt waren und die alten exekutiven Machtstrukturen teilweise oder ganz vom Nachkriegsstaat übernommen worden waren. Da alle Wiedergutmachungsanträge gescheitert waren, entschloß sich Paul W. einen Frührentenantrag zu stellen, um über diesen Umweg doch noch zu einer Entschädigung zu gelangen. Berufs-unfähigkeit liegt vor, wenn die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten "infolge von Krankheiten oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist". Die Landesversicherungsanstalt (LVA) ließ Paul W. von Dr. N., Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, Münster, begutachten. Dieser stellte als Gesundheitsstörung u. a. eine "angeborene Minderbegabung", ein "Anfallsleiden unklarer Genese" und eine "Narbe nach Samenleiterdurchtrennung" fest. Er hielt aber Paul W. für fähig, "leichte Männerarbeiten zu ebener Erde ohne geistige Verantwortung mehr als halbtags zu verrichten". Gestützt auf dieses Gutachten lehnte die LVA den Rentenantrag ab. Daraufhin erhob Paul W. Klage beim Sozialgericht Münster mit der Begründung, er sei nicht mehr in der Lage, lohnbringende Arbeiten in regelmäßiger Zeitfolge zu verrichten. Das Sozialgericht holte ein weiteres Sachverständigengutachten von dem Facharzt für Nerven- und Gemütsleiden, Dr. W. aus Amelsbüren, ein. Dieser stellte "Debilität" und "lebhafte vasomotorische Erregbarkeit" fest. Paul W. sei nicht mehr in der Lage, geistige Tätigkeiten jeglicher Art zu verrichten, er könne jedoch einfache leichte Hilfsarbeiten im Sitzen oder im Wechsel zwischen Sitzen, Gehen oder Stehen ausführen. Gestützt auf diese beiden Gutachten wies das Sozialgericht am 23.1.1969 die Klage ab, da eine Berufsunfähigkeit nicht vorliege. Das Gericht führte in der Urteilsbegründung u. a. aus, daß auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Einsatzmöglichkeiten bestünden, die den Kräften und Fähigkeiten des Klägers entsprechen würden. In Betracht kämen etwa industrielle Hilfstätigkeiten, z. B. Montieren, Sortieren, Verpacken und Abfüllen.

Es stellt sich die Frage, warum sich das Sozialgericht in seiner Urteilsfindung primär auf zwei nervenärztliche Gutachten gestützt hat, obwohl Paul W. seine Arbeitsunfähigkeit niemals mit einem Nervenleiden im weitesten Sinne begründet hat. Hier gewinnt ein weiterer Umstand eine ganz besondere Bedeutung. Aktenkundig war, daß Paul W. bei verschiedenen ärztlichen und stationären Behandlungen darauf hingewiesen hatte, seit 1951 an sporadisch auftretenden Krampfanfällen zu leiden. Aus diesem Grund hatte er sich 1965 einer vierwöchigen Kur in einer neurologischen Klinik unterzogen. Der ärztlichen Begutachtung liegen also drei entscheidende Prämissen zugrunde: 1.) ist 1937 durch eine ärztliche Diagnose "angeborener Schwachsinn" festgestellt worden, 2.) treten seit 1951 Krampfanfälle auf und 3.) behauptet der Kläger, durch die Sterilisation körperliche und psychische Schäden davongetragen zu haben. Dazu summieren sich weitere aktenkundige Faktoren: In den ärztlichen Berichten der LVA-Akte wird immer wieder auf das ungepflegte äußere Erscheinungsbild hingewiesen. Überdies ist Paul W. als "Querulant" bekannt: seit Jahren führt er Prozesse gegen verschiedene staatliche Körperschaften.

Das Bild rundet sich. Von Anfang an waren weder LVA noch Sozialgericht dazu bereit, sich auf die eigentliche Klagebegründung einzulassen bzw. ihre Rechtfertigung zu überprüfen: die Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit durch Folgeschäden der Zwangssterilisation. Vielmehr haben sich Sozialgericht und LVA von vorneherein darauf beschränkt, was aktenkundig war: die scheinbar beobachtete Einschränkung der geistigen Leistungsfähigkeit von Paul W. Demzufolge war allein darüber zu verhandeln, ob die körperlichen und geistigen Kräfte des Klägers auf weniger als die Hälfte eines körperlich und geistig gesunden Versicherten herabgesunken waren. Die Faktizität der Aktenbeweislage schließt bei der Anamnese exogene Faktoren aus. Die in den Akten festgestellten endogenen Indikatoren von Geistesschwäche lassen Fragestellungen hinsichtlich psycho-sozialer Leistungsminderungen gar nicht erst aufkommen. Insofern erscheint die Einlassung des Klägers, seine psychisch bedingte Erwerbsunfähigkeit auf die Folgen der Zwangssterilisation zurückführen zu wollen, als obsolet.

Nicht von ungefähr ähnelt diese Beweisaufnahme der juristischen Argumentation, die jede Entschädigung von Zwangssterilisation ablehnt. Hier wie dort wird die Frage nach der Ursache, nach dem Wesen des Gegebenen als unfruchtbar außer Betracht gestellt. Dahinter verbirgt sich die gemeinsame Philosophie des Positivismus, die dort die Frage nach dem gesellschaftlich-historischen Kontext des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" wie hier die Frage nach den psychogenen Faktoren von Berufsunfähigkeit für irrelevant erklärt. Das vom Sozialgericht in Auftrag gegebene Sachverständigengutachten vom 5.12.1968 stellt als Gesundheitsstörung "Debilität" und eine "lebhafte vasomotorische Erregbarkeit" fest. Die Zwangssterilisation und ihre Folgen reduzieren sich auf eine Operationsnarbe: "Narbe nach Samenleiterdurchtrennung beiderseits". Nicht nur, daß kein einziger Satz über die Zwangssterilisation verloren wird, selbst der Begriff taucht überhaupt nicht mehr auf. Wollen wir nun wissen, wie der Nervenarzt zu seinen Ergebnissen gekommen ist, müssen wir die angewandte Untersuchungsmethode betrachten. Zum entscheidenden Kriterium für die Diagnose "Schwachsinn" wird die Bestandsaufnahme des vorhandenen Schulwissens, und das ist mangelhaft. Die Fragen, die hier gestellt werden, unterscheiden sich in ihrem Inhalt nicht von dem Intelligenzprüfungsbogen, der in standardisierter Form in sogenannten "Erbgesundheitsverfahren" des "Dritten Reichs" verwendet wurde:

7 x 18 + 81 : 3 =

Bezeichne die fünf Erdteile:

Bei wieviel Grad kocht Wasser?

Nenne die Monate mit 31 Tagen:

Wo geht die Sonne auf?

Im Wald ist eine zerstückelte Leiche gefunden worden. Die Polizei vermutet Selbstmord. Was ist davon zu halten?


Paul W.s Antworten bestätigen dem Gutachter, was bereits 1937 diagnostiziert worden ist: "erblicher Schwachsinn" – hier in umschriebener Form als Debilität bezeichnet. Damit klärt sich zwar auch der Tatbestand der seit 1951 auftretenden Anfälle. Der Arzt hat es nicht für nötig befunden, ein EEG anzufertigen, um der Frage nachzugehen, um welche Anfälle es sich handeln könnte; er geht davon aus, daß es sich bei Paul W. um einen Intelligenzrückstand vom Grade einer Debilität handelt. Die Frage, ob es sich um "erblichen Schwachsinn" handele oder ob einer geburts-bedingten Hirnschädigung Bedeutung zukomme, brauche im Rahmen seines Gutachtens nicht weiter diskutiert werden.

Wie kommt der Gutachter zu seiner Feststellung, Paul W. leide an einer "lebhaften vasomotorischen Erregbarkeit", wobei hier davon abgesehen wird, daß es einen solchen Krankheitsbegriff eigentlich nicht gibt? Paul W. hatte in den früheren Jahren immer wieder darauf hingewiesen, daß er sich durch die Zwangssterilisation in der Entfaltung seiner Persönlichkeit und im Sozialstatus erheblich beeinträchtigt fühle, ohne daraus explizit eine Minderung seiner Erwerbsfähigkeit abzuleiten. Ganz im Gegenteil hatte er immer regelmäßig gearbeitet. Dem Gutachter gegenüber gab er nun an, daß ihn besonders die moralische Seite der Zwangssterilisation mitgenommen habe. Der Gutachter ging jedoch in keiner Zeile auf die Zwangssterilisation ein, sondern beobachtete lediglich die Reaktionen von Paul W., sobald er auf dieses Thema zu sprechen kam. Je größer die Ablehnung des Arztes war, auf die sozialen Hintergründe und den Unrechtsgehalt der Sterilisation einzugehen, desto erregter wurde Paul W. in seinem Bemühen, das begangene Unrecht begreifbar zu machen. Mangelnde Eloquenz und empfundene Ablehnung mögen ihr übriges dazu beigetragen haben, um Paul W. sehr unbeholfen erscheinen zu lassen. Auch in dem am 16.6.1976 von Dr. R. aus Dortmund erstellten Gutachten wird vermerkt, daß Paul W. "mißgestimmt, anklagend oder resignierend" wirke, wenn das Gespräch auf seine Sterilisation komme.

Der biologische Determinismus als konstituierendes Merkmal sozialmedizinischer Diagnose läßt an Deutlichkeit nichts mehr zu wünschen übrig. Gesucht wird nach einem organischen Leiden. Getreu der sozial-darwinistischen Lehre interessiert nicht die Genese eines Gesamtverhaltens, sondern das meßbare Faktum eines erkennbaren, abweichenden Verhaltens, das organisch lokalisiert werden kann. In der Manier der induktivistischen Naturwissenschaft wird der Untersuchungsgegenstand in erkennbare, positive Fakten aufgelöst, die experimentell reproduzierbar und dadurch begreifbar sind. Also erfährt die lang aufgestaute Wut des Paul W. ihre organische Lokalisierung als "lebhafte vasomotorische Erregbarkeit". Von hier ist es nur ein kleiner, fast unsichtbarer Schritt zur Erbgesundheitslehre, die verspricht, biologisch determinierte Abweichungen und Fehlentwicklungen durch rassische Aussonderung ein für allemal auszumerzen. Letztlich erfüllen die beiden medizinischen Gutachten zweierlei Funktionen: Sie be-stätigen erstens die medizinische Diagnose von 1937, die zur Zwangssterilisation geführt hat, indem sie das Experiment wiederholen und mittels einer "Intelligenzprüfung" erneut mangelhaftes Schulwissen als Parameter von Schwachsinn feststellen. Sie negieren zweitens den Komplex Zwangssterilisation, indem sie die Folgen auf das organisch Sichtbare, "eine Narbe nach Samenleiter-durchtrennung beiderseits" reduzieren. Von einer gesundheitlichen Einschränkung, die zur Arbeitsunfähigkeit führt, kann also nicht gesprochen werden.

Zwangssterilisation ist folgenlos

Betroffene, die gesundheitliche Schäden als Folgeerscheinung geltend machen, werden als Simulanten bezeichnet. Die beiden bisher zitierten medizinischen Gutachten haben praktisch das Niveau der für das Erbgesundheitsverfahren gestellten medizinischen Diagnose nicht verlassen, da sie sich allein darauf beschränkten, die in den Akten immer wiederkehrende Behauptung einer geistigen Behinderung auf organische Ursachen hin zu untersuchen und den Komplex der Zwangssterilisation gar nicht erst zu berücksichtigen. Im Einklang mit LVA und Sozialgericht stellt sich für sie die Frage der Berufsunfähigkeit nur im Hinblick auf eine Einschränkung der geistigen Kräfte des Klägers.

Da Paul W. nicht nachgibt und die LVA 1974 erneut mit dem ausdrücklichen Verweis auf die schwere körperliche und psychische Schädigung durch den zu Unrecht erfolgten Eingriff der Unfruchtbarmachung verklagt, ist das Sozialgericht Münster in der Sitzung vom 17.9.1975 gezwungen, dem Antrag des Klägers stattzugeben, ein weiteres psychiatrisches Gutachten beizuziehen, das die psychische Komponente der Zwangssterilisation berücksichtigt. Dieses am 16.6.1976 erstellte Gutachten geht zwar erstmals auf den Sterilisationskomplex ein, ohne indes – analog zu den Vorgutachten – eine wesentliche gesundheitliche Einschränkung festzustellen, denn: "...daß ein junger Mann sich durch die Sterilisation sowohl in seinem Selbstbewußtsein als auch im sozialen Gefüge des Staates beeinträchtigt fühlt, steht außer Zweifel. Andererseits ist aber hervorzuheben, daß der Kläger vor dem Kriege als auch im Kriege als auch nach dem Kriege bis 1971 oder 1973 gearbeitet hat." Dr. R. aus Dortmund läßt sich ganz im Einklang mit seinen Fachkollegen nur von sicht- und meßbaren Faktoren beeindrucken, und die sind eindeutig: Paul W. hat trotz Sterilisation immer gearbeitet, also entfällt die Sterilisation als Grund für Arbeitsunfähigkeit. Aber ganz so einfach will er es sich auch nicht machen. Denn immerhin steht noch die Frage nach der geistigen Gesundheit von Paul W. im Raum. Und diese Frage verwirrt Dr. R.. Einerseits haben die Fachkollegen einmütig eine Geistesschwäche diagnostiziert, andererseits muß er aber im Gespräch mit Paul W. feststellen, daß dieser durchaus über eine "zufriedenstellende Lebenserfahrung" verfügt: "Wenn man sich mit dem Kläger unterhält und nicht gezielt Fragen nach dem Schulwissen etc. stellt, glaubt man gar nicht, daß er diese Lücken aufweist." Dr. R. steht vor dem Dilemma, entweder die bisherigen Diagnosen ad absurdum zu führen oder aber eine Erklärung dafür zu finden, daß der Kläger zwar nicht schwachsinnig wirkt, de facto aber schwachsinnig ist.

Dr. R. entscheidet sich für die letzte Variante, da nicht sein kann, was nicht sein darf, nämlich eine prinzipiell falsch gestellte, medizinische Diagnose. Bei seiner Suche nach einer Begründung kommt ihm ein organischer Befund zur Hilfe: die zeitweiligen Anfälle von Paul W.. Kernstück seines Gutachtens wird also die ausführliche Auswertung eines EEG-Befundes: ein "Krampfstrom-Herd". Da Krankheiten und Unfälle, die eine derartige Gehirnschädigung hervorgerufen haben könnten, fehlen, ist davon auszugehen, "daß bei Herrn W. doch eine frühkindliche Hirnschädigung vorliegt". Die vorher gestellten medizinischen Diagnosen waren nicht prinzipiell falsch, sondern nur nicht genügend wissenschaftlich untermauert: "Im Hinblick auf den krankhaften EEG-Befund... ist zu sagen, daß der Kläger nicht an einer Geistesschwäche im Sinne einer Debilität leidet, sondern an einer Geistesschwäche, die durch die frühkindliche Hirnschädigung hervorgerufen worden ist." Unklar bleibt allerdings, wie sich nun diese Geistesschwäche konkret äußert, denn außer dem organischen Befund von Geistesschwäche kann Dr. R. keinerlei Anzeichen von Geistesschwäche finden: " Was den psychiatrischerseits jetzt zu erhebenden Befund angeht, so ist derselbe, wie schon gesagt, einmal geprägt durch eine Geistesschwäche aufgrund der frühkindlichen Hirnschädigung, dies aber bei zufriedenstellender allgemeiner Lebenserfahrung." Auffälligkeiten im Verhalten treten lediglich beim Thema Sterilisation auf: "Zudem bietet er Zeichen von Resignation und zeitweilig auch von Mißgestimmtheit, aber nur, wenn er auf das Thema 'Steri-lisation' zusprechen kommt."

Die Ausführungen von Dr. R. sind das perfekteste Exemplar eines biologistisch determinierten psychiatrischen Gutachtens. Der EEG-Befund deutet auf eine organische Hirnschädigung, also stimmt die Diagnose Geistesschwäche doch. Aus diesem experimentell nachweisbaren Faktum resultiert als logische Konsequenz, daß weitere Beweise von Geistesschwäche – z. B. mangelhaftes Schulwissen – unerheblich werden, ebenso wie umgekehrt die Beobachtung des normalen, keineswegs von Geistesschwäche geprägten Verhaltens des Probanden. Diese Argumentation mag den Leser verwirren, da er den Widerspruch zwischen organisch lokalisierter Geistesschwäche und offensichtlicher 'Normalität' nicht aufgelöst glaubt. Für Psychiater wie Dr. R. ist es bedeutungslos, diesen Widerspruch aufzuklären, da die Diagnose einer faktischen, organischen Geistesschwäche als Folge einer frühkindlichen Hirnschädigung durch die eventuelle Beobachtung gegenteiliger Verhaltensweisen, die auf den Vollbesitz der geistigen Kräfte schließen lassen, nicht falsifiziert werden kann. Einmal mehr wird deutlich, wie in einer sozialmedizinischen Begutachtung einer organisch-biologistischen Genese psychischen Leidens eine ausschließliche Priorität eingeräumt werden kann. Konkrete Lebensäußerungen oder Leidensdruck nicht in einen historisch-sozialen Kontext einzuordnen, zeigt die gutachterliche Ignoranz gegenüber der Person Paul W., wenn er einen "zeitweiligen depressiven Verstimmungszustand" bei ihm beobachtet, sobald dieser über seine Sterilisation spricht.

Folgen hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit hat die frühkindliche Hirnschädigung jedoch nicht. "Der Kläger kann noch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eingesetzt werden, ohne daß es sich nur um eine soziale Maßnahme bei dem Kläger selbst handelt", denn die festgestellte Hirnschädigung bestehe bereits seit der Geburt, der Kläger sei also damit ins Erwerbsleben eingetreten. Ebensowenig kann die Einlassung Paul W.s, durch die Sterilisation schwere körperliche und psychische Schäden erlitten zu haben, geltend gemacht werden: "Gravierende Folgen hat die im 17. Lebensjahr vorgenommene Sterilisation auf de Leistungsfähigkeit des Klägers nicht gehabt. Sie hat ihn vielmehr in seinem Selbstvertrauen und in seiner Persönlichkeit getroffen, und dies färbt naturgemäß auch auf seine Verhaltensweisen gegenüber seiner Umgebung ab. Aber wie schon aus den Aktenunterlagen hervorgeht, hat er bei keinem Arzt, bei keiner Kur, keiner Begutachtung die jetzigen Ausführungen vorgebracht, die Sterilisation sei eine der Hauptursachen für sein soziales Versagen gewesen."

Die Sterilisation hat zwar die Persönlichkeit und die Verhaltensweisen beeinflußt, Folgen auf das, was aus sozialmedizinischer Sicht allein zählt, die Leistungsfähigkeit des Klägers, hatte sie nicht. Darüber hinaus vorhandene psychische Leiden sind auf das persönliche soziale Versagen Paul W.s zurückzuführen, da er als Kläger bisher nie seine Sterilisation als Hauptursache vorgebracht habe; sie spielen auch keine Rolle, solange sie die Leistungsfähigkeit nicht entscheidend einschränken.

Das bereits 1960 eher holzschnittartig entworfene Bild vom Simulanten erhielt 1976 einige sozialmedizinische, den Zeitläufen angemessene Verfeinerungen. Die vom Kläger unter Beweis gestellte Arbeitsfähigkeit widerspreche sich selbst, schwere körperliche und psychische Schäden davongetragen zu haben. Psychische Arbeitsunfähigkeit wird entweder nicht anerkannt, oder aber es wird dahinter eine wie auch immer geartete organische Beeinträchtigung der geistigen Kräfte vermutet. Dieses Phänomen der Reduktion psychischer Devianz auf Geistesschwäche scheint symptomatisch für die sozialmedizinische Befunderhebung und nur ein kleiner Ausschnitt aus der alltäglichen sozialmedizinischen Praxis. Es macht aber deutlich, auf welchen ideologischen Grundlagen die aktuelle Planung einer sozialmedizinischen Präventions- und Interventionsstrategie, die die Flut des Krankfeierns und Kaputtschreibens effizient eindämmen soll, beruht. Schlagworte wie "Humanisierung der Arbeitswelt" verkommen zur Sprechblase auf dem Hintergrund einer solchen Krisenintervention. Eine Grundlagenforschung über Erwerbsminderung und Arbeitsunfähigkeit würde dem ideologischen Kalkül der Herrschenden widersprechen, beabsichtigt ist vielmehr – wie immer in Zeiten der Krise – durch Aussonderung und Brandmarkung den nichtverwertbaren Teil der Arbeitskräfte auszugrenzen. Immer geht das Kalkül jedoch nicht auf: Am 20.6.1979 verurteilte das Sozialgericht Münster die LVA zur Zahlung einer Erwerbsunfähigkeitsrente rückwirkend ab 1.9.1973. Den Ausschlag gab das Gutachten von Dr. N. aus Tübingen vom 8.5.1979, den Paul W. als Arzt seines Vertrauens benannt hatte. Er bescheinigte Paul W. eine schwere Neurose, die ihren Ursprung in einem Kastrationstrauma habe.

Robert Krieg

Aus: Erfassung zur Vernichtung. Hrsg.: Karl Heinz Roth, 1984
SeitenanfangImpressumDatenschutz