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Lebensunwert?

Paul Wulf und Paul Brune. NS-Psychiatrie, Zwangssterilisierung und Widerstand

Laut den Herausgebern, ein Zusammenschluss aus FreundInnen und HistorikerInnen, der sich selbst "Freundeskreis Paul Wulf" nennt, erhebt das Buch keinen Anspruch auf eine systematische Darstellung der "Erbgesundheitslehre" im Nationalsozialismus. Vielmehr lässt es zwei Betroffene, Paul Wulf und Paul Brune, exemplarisch für tausende Zwangspsychiatrisierte sprechen.

Für den bereits verstorbenen Paul Wulf wird auf biographische Notizen zurückgegriffen. Wulf beschreibt in diesen seine Heimeinweisung, die auf Rassismus beruhende Zwangssterilisation und seinen spät belohnten Anerkennungskampf in der BRD.
Im Aufsatz von Paul Brune, einem Auszug aus einer Petition, geht es dagegen vornehmlich um die Heimpraxis des "St.-Johannes-Stift" im sauerländischen Marsberg, in welchem auch Paul Wulf "einsaß". Was Brune berichtet, ist mehr als erschütternd: Die Station ist "leer und kahl." Den Tag über müssen die Kinder, sie sind zwischen 4 und 10 Jahre alt, schweigend und sitzend am Tisch verbringen. Sprechen wird bestraft: Paul Brune beschreibt, wie eine Heimaufseherin "dem Sünder", der es gewagt hat, mit seinem Nachbarn zu tuscheln, mit ihrer Faust knetend im Gesicht herumfährt oder ihn am Ohr reißt. Die jüngeren Kinder lernen das Sprechen nicht, die älteren verlernen es. "Da es keine Bewegung gab, nur Stillsitzen den ganzen Tag, verkümmerten bei den kleinen auch vor allem die Beine." Sie wurden beschimpft als "Abschaum der Menschheit", "Minderwertige", "unnütze Esser", "Schmarotzer" usw. Bei Onanie hatte der Erwischte nächtelang eine Zwangsjacke zu tragen. Ferner wurde ihnen bei Missachtung der Regeln das Essen entzogen oder Erbrochenes musste erneut verzehrt werden.
Diese Aufzählung an Grausamkeiten ist schwer zu ertragen. Um so unverständlicher ist die ausbleibende Zäsur im deutschen Psychatriewesen in der Folge der Niederschlagung des NS-Regimes und das lange Ringen um Entschädigung seitens der Betroffenen.
Es ist u.a. der aufklärenden Arbeit von Menschen wie Paul Wulf und Paul Brune zu verdanken, dass Betroffene der nationalsozialistischen Rassenhygiene heute etwas mehr Gehör finden. Trotzdem: Dieses Thema ist bei weitem nicht ausreichend aufgearbeitet. Das Buch verdient eine weite Verbreitung.

Anlässlich der aktuellen Skulpturenausstellung in Münster wurde Paul Wulf ein Denkmal gesetzt. Die Künstlerin Silke Wagner erschuf, in Zusammenarbeit u.a. mit Bernd Drücke vom "Paul-Wulf-Freundeskreis", Mitherausgeber und Mitautor des Buches "Lebensunwert? Paul Wulf und Paul Brune", eine 3,40 m hohe Figur aus Epoxid-Zement, welche alle 3 Wochen neu plakatiert wird. Neben Zeugnissen aus dem Leben von Paul Wulf werden auch Dokumente der HausbesetzerInnenszene in Münster, Zensur und Kriminalisierung alternativer Medien, die Geschichte des Umweltzentrum-Archivs und der Antiatombewegung zu sehen sein.
Diese Dokumente sind auch in einer längeren Fassung unter www.uwz-archiv.de online abrufbar.
Die Skulptur steht vor dem Stadthaus 1 in der Münsteraner Innenstadt.

Ansgar Lorenz

Semesterspiegel Nr. 370, Zeitung der Studierenden in Münster, www.semesterspiegel.de
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