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Die Kinder der iranischen Revolution

"Warum können wir nicht frei leben wie andere Jugendliche auch?"

(MUSIK) sehnsuchtsvoll (Viguen) / am Ende überblendet mit

(AUTORIN) "Ohne Dich, Teheran, bin ich in der Fremde wie erloschen; wie sehne ich mich nach Dir, Du wunderbare Stadt. Wann wird es endlich wieder Nacht – Zeit von Dir zu träumen... ?" (Übersetzung Liedtext) Ich reise zurück in eine Stadt, in ein Land, das für viele Iraner im Exil nur noch aus Sehnsüchten besteht, aus Erinnerungen. In Teheran bin ich aufgewachsen, vor mehr als zwanzig Jahren. Meine tiefe Zuneigung zu dieser Stadt ist nach all den Jahren nicht gewichen, ganz gleichgültig, wie viele neue Hochhäuser inzwischen lieblos aus dem Boden gestampft wurden. Die meisten, die die Stadt besuchen, finden sie häßlich. Jedes Mal nehme ich mir vor, Teheran ganz nüchtern zu betrachten. Aber es gelingt mir nicht. Ich bewundere die Menschen hier, ihre Fähigkeit, ein Leben auch unter den Repressionen des Gottesstaates und den Belastungen einer schweren Wirtschaftskrise zu bewältigen.

(ATMO) Demogeräusche, Gebrüll / darüber:

(O-TON 1: ALI-REZA) Es fällt mir schwer, über das zu reden, was ich gesehen habe, weil es mir Angst macht, darüber zu sprechen und weil mir die Erinnerung daran zu schaffen macht. Am dritten Tag der Proteste sah ich, wie die Hezbollahi im Wohnheim die Studenten zusammenschlugen.

(AUTORIN) Alle hatten Angst vor der gewalttätigen Atmosphäre, die sich im Juli 1999 wie ein Lauffeuer in der Stadt ausbreitete, auch ich. Wenige Stunden nach der friedlichen Studentenprotesten drangen Sicherheitskräfte und militante Hezbollahi mit Gewalt in die Schlafräume des Studentenwohnheims ein. Mit Metallketten und Stöcken schlugen sie brutal auf die Studenten ein. Die meisten von ihnen wurden wehrlos im Schlaf überrascht. Als ich ein paar Tage später zum Studentenwohnheim fuhr, stand ich vor einem Schauplatz der Verwüstung – verkohlte Betten, Tische und Stühle. Ganz zu schweigen von den Toten und Verletzten, die es gab. Nach dem Überfall gingen die Studenten wieder auf die Straße und protestierten gegen diese Gewalt. Ihr Protest hielt nicht lange an. Der Staat gewann die Kontrolle zurück und rächte sich: Vier Studentenführer wurden angeklagt und zum Tode verurteilt. Es ist so viel geschehen, seit ich meine Jugend im Iran verbrachte. Nichts erinnert mehr an früher. Auch wenn ich hier wie die anderen Iranerinnen unter dem Kopftuch stecke: Ihr Leben gleicht nicht meinem früheren Leben hier. Sie sind in einer anderen Zeit groß geworden – in der Islamischen Republik. Die meisten ihrer Eltern waren die treibende Kraft der Revolution vor 21 Jahren. Sie lehnten sich auf gegen die Herrschaft des Schahs, der in ihren Augen eine Marionette des Westens war. Die Politik der Schah-Dynastie hatte das ölreiche Land zuerst von den Engländern, dann von den Amerikanern wirtschaftlich abhängig gemacht. Der Versuch der gewaltsamen antireligiösen Verwestlichung hatte die iranische Gesellschaft in eine Kultur- und Identitätskrise getrieben. Den aufbegehrenden Menschen bot die Islamische Revolution eine Alternative zu den Werten westlicher Kultur und die Chance der nationalen Selbstbestimmung.

(MUSIK) Instrumentalmusik

(GEDICHT) ... / Einer kommt. / Einer, der mit uns fühlt und mit uns atmet, für uns spricht. / Einer, den niemand hindern kann, / zu uns zu kommen, / Den niemand festnehmen und ins Gefängnis sperren kann. / ... / Einer kommt aus dem Feuerwerk am Himmel des Kanonenplatzes, / breitet das Tischtuch aus / und teilt das Brot aus. / ... Teilt alles auf, was sonst verdirbt / und gibt uns unsern Teil. / Ich habe ihn im Traum gesehen. / ...

(AUTORIN) Mit diesem Traum, den sie einem kleinen Mädchen in den Mund legte, brachte Forugh Farrochsad ihre Wünsche und Hoffnungen für die Zukunft des Landes zum Ausdruck. Sie hat als Dichterin und Frau in ihrem kurzen Leben viele gesellschaftliche Tabus gebrochen. Mit ihrem Werk wurde sie zur bedeutendsten Poetin ihres Landes. Manche ihrer Gedichte sind heute immer noch verboten und kursieren nur unter der Hand. Forugh Farrochsad selbst hat die neue Zeit nicht mehr erlebt, auf die die Eltern hofften. Deren Kinder wurden während oder nach der Revolution geboren. Aufgrund der jahrelangen Politik, Geburten nicht zu kontrollieren, macht die jüngere Altersgruppe bis 25 Jahre heute die Mehrheit der Bevölkerung aus.

(MUSIK) Revolutionslied

(O-TON 3: AZAM TALEGHANI) Als vor 20 Jahren die Revolution begann, teilte ich nicht das euphorische Gefühl, das die Bevölkerung hatte. Ich habe die Menschen auf der Straße nicht verstanden, die alles zerstörten und "Tod dem Schah" riefen, und habe mich gefragt, ob sie überhaupt einen Plan für die Zukunft haben, ob ihnen denn bewußt ist, was sie da machen.

(AUTORIN) Azam Taleghani, theologisch geschulte Tochter des berühmten Ayatollah Taleghani, der nach Khomeni der zweite Führer der Islamischen Revolution war, sorgte vor Jahren für Aufsehen, als sie die Zulassung von Frauen zu hohen religiösen Ämtern forderte. Den Mullahs warf sie vor, ihre Auslegung des Korans sei chauvinistisch. Am großen Konferenztisch in den stillen Redaktionsräumen saß ich einer kleinen, runden und gemütlichen Dame um die sechzig gegenüber, die äußerst lebendig erzählen konnte. Azam Taleghani war lange Zeit als Parlamentsabgeordnete aktiv, heute ist sie Chefredakteurin einer liberalen theologischen Zeitschrift. Sie ist eine vielbeschäftigte und engagierte Frau, die die Nacht zum Tag macht. Weil ihr Terminkalender so voll war, trafen wir uns um Mitternacht zu einem Gespräch.

(O-TON 4: AZAM TALEGHANI) Auch ich war gegen den Schah – ich war zwei Jahre im Gefängnis. Während meiner ganzen Schul- und Studienzeit habe ich meinen Vater immer im Gefängnis besuchen müssen oder an seinen Gerichtsverhandlungen teilgenommen. Mein persönliches Ziel war nicht nur die Absetzung des Schahs und seines diktatorischen Regimes, sondern der Kampf gegen jedwede Diktatur und ihre mögliche Wiederholung. Mein Ziel war eine gemäßigte Gesellschaft.

(ATMO) Wohnzimmer, redende Menschen / stehen lassen unter:

(AUTORIN) Anahita besuche ich bei ihrer Familie, mit der sie, wie alle meine unverheirateten Freundinnen, nach wie vor zusammenlebt. Im langen schwarzen Tschador begrüßt mich ihre Mutter. Ich schlüpfe aus meinen Schuhen, stelle sie zwischen die vielen anderen vor der Wohnungstür und betrete das große Wohnzimmer. In Deutschland vermisse ich diese weiten, mit Teppichen ausgelegten Räume, die meist direkt mit der Küche verbunden sind und sich einladend öffnen für die vielen Gäste, die in jeder iranischen Familie ein und aus gehen. Tee, Gebäck, Obst und Nüsse stehen immer bereit. Die Gastfreundschaft und ein offenes Haus zählen viel in diesem Land, auch wenn die Familie nicht vermögend ist und wenig privaten Wohnraum zur Verfügung hat. Anahita und ihre Schwester bewohnen die beiden winzigen Zimmer, die es in dieser Wohnung außerdem noch gibt – diesen Luxus gestehen die Eltern den erwachsenen Töchtern zu. Sie selbst und die beiden jüngeren Geschwister rollen nachts ihre Schlafmatten im Wohnraum aus.

(O-TON 5: ANAHITA) Ich war zwar noch ein Kind, als die Revolution begann, doch ich weiß genau, wie die damaligen Ideale lauteten: eine Gesellschaft ohne irgendwelche Klassenunterschiede. Aber heute sehen wir einen ungeheuren Unterschied zwischen den sozialen Schichten. Wer war eigentlich unser Vorbild? Natürlich fordert man uns im Radio und im Fernsehen dazu auf, den Ärmeren zu spenden. Wir sollen ohne Luxus leben. Aber wer lebt uns das denn in der Praxis vor? Wenn wir sie von vier kugelsicheren Mercedes-Karossen begleitet an uns vorüberziehen sehen, angeführt und gefolgt von zehn Motorrädern – was sollen wir uns dabei noch denken? Ein Jugendlicher wünscht sich daraufhin auch, wenn schon nicht einen Mercedes, dann wenigstens einen Pride zu fahren. Sie sind doch unsere Vorbilder! Können die überhaupt hinter den kugelsicheren Fensterscheiben sehen, was die Menschen hier draußen bewegt?

(AUTORIN) Die islamische Kleidervorschrift gilt für die Frauen in der Öffentlichkeit, nicht im privaten Zuhause. Dort verschleiern sich nur die, die religiös und der Tradition verbunden sind. Alle anderen lassen wie ich erleichtert überflüssige Hüllen fallen. Anahita erscheint mit weißem Trägerhemdchen und einer schwarzen engen Stretchhose. Wieviel jünger sie aussieht – eine attraktive junge Frau von 24 Jahren, die an der Kunstakademie unterrichtet.

(O-TON 6: ANAHITA) Du kannst im Iran die bestgekleideten Frauen sehen, besser gekleidet als die Pariserinnen. Das äußere Erscheinungsbild ist einem iranischen Mädchen oder Jungen sehr wichtig. Deshalb wollen sie auch sehr up to date sein. Wir tragen unter unserem Gewand die schicksten Röcke und Hosen, die schicksten Schuhe, auch aus dem Ausland. Der Staat importiert diese Sachen zwar nicht, aber wir haben tausende Reisende, die uns das mitbringen – Kleidung, Parfum, Kosmetika. Die Boutiquen sind voll davon. Geh' mal in die Teheraner Boutiquen, da kannst Du das alles kaufen. Oder schau Dir meine Nase an: kannst Du Dir vorstellen, daß sie operiert wurde? Jede dritte Frau hier im Iran hat ihre Nase korrigiert, weil wir ein Volk sind, daß der Schönheit große Bedeutung beimißt.

(AUTORIN) In meinem praktischen Reise-Outfit komme ich mir hier im Lande tatsächlich blaß und von Anahita mitleidig belächelt vor. Überall in der Stadt sehe ich auffällig geschminkte Frauengesichter und viele kleine Stupsnasen unter den Kopftüchern – so weit wie möglich nach hinten verschoben, um ein paar blondierte Haarsträhnen hervorschauen zu lassen. Vor zwei, drei Jahren war das noch undenkbar. Damals haben der Hejab – das islamische Kopftuch -, das Mantelkleid und der Tschador, ein Tuch, das von Kopf bis Fuß reicht, um den ganzen Körper zu verhüllen, sorgfältig alles versteckt. Keine Haarsträhne und kein Bein kamen zum Vorschein. Für viele junge Frauen scheinen die nachlassenden Kontrollen der Revolutionswächter Freiheit zur Individualität, aber auch zum Modewahn zu bedeuten.

(O-TON 7: ANAHITA) Ich frage mich: Warum sollen wir uns verschleiern? In fast jedem Land der Erde ist Schwarz die Farbe des Todes und der Trauer – warum sollen wir diese Farbe als nationales Symbol der Frauen verwenden? Das kann ich für mich nicht akzeptieren.

(ATMO) Coffee-Shop, Musik, Sprechgeräusche

(AUTORIN) Die Studentin Elholm und den Boutique-Verkäufer Ramin lerne ich in einem Coffee-Shop kennen. C o f f e e – S h o p – die Sprache des "Erzfeindes"; inzwischen gibt es in Teheran einige davon. Sie sind wie Inseln in einer Stadt, in der es von Verboten nur so wimmelt. Halbherzig werden die Treffpunkte von oben geduldet. Willkürlich können sie jederzeit wieder geschlossen werden. Aber dort, wo ein Coffee-Shop schließen muß, entsteht zumeist schon bald wieder ein neuer.

(O-TON 8: ELHOLM) Sie haben das Tragen des Tschadors zur Vorschrift gemacht. Wenn sie uns vor der Universität oder auch nur in Uninähe ohne Tschador sehen, wird man für zwei Wochen von der Uni ausgeschlossen. Das Gleiche gilt für das Tragen von Make-Up oder lackierten Fingernägeln. Wenn man es wagt, sich mit einem Studenten zu unterhalten, wird man vor die Direktion der Universität zitiert. Den Tschador müssen wir so tief ins Gesicht ziehen, daß noch nicht einmal die Augenbrauen sichtbar werden, nur die Augen. Darunter tragen wir eine Kopfbedeckung, die das Kinn vollkommen bedeckt, einen langen schlichten Mantel, blickdichte Strümpfe, sportliche Schuhe und Hosen, die nicht eng sein dürfen, damit die Beine nicht zu sehen sind.

(O-TON 9: RAMIN) Ich stand an einer Einkaufspassage und wartete auf Freunde, meine Haare waren damals schulterlang. Plötzlich sah ich vor mir einen weißen PKW mit privatem Kennzeichen anhalten und hatte drei Männer mit langen Bärten vor mir, die Armeejacken trugen. Bevor ich mich versah, hatte ich eine gebrochene blutende Nase. Mir liefen die Tränen, ich lag auf dem Bauch am Boden, meine Hände wurden mir auf dem Rücken gefesselt. Sie haben mich zwischen die Beine getreten und dabei wüst beschimpft. Prügelnd haben sie mich ins Auto und auf den Boden des Wagens gezerrt. Ich war sehr verkrampft, weil ich an Asthma leide. Egal, wie sehr ich auch darauf hinwies, daß ich in Atemnot sei und meine Tabletten bräuchte, sie haben mir nicht erlaubt, die Kapseln einzunehmen. Sie haben mir die Augen verbunden und fuhren mich kreuz und quer in eine dunkle Gegend, wo sie mich rausgeschmissen haben. Dort schlugen sie derart mit Plastikknüppeln auf mich ein, daß ich einen ganzen Monat lang nicht mehr wie ein Mensch aussah. Als ich da wieder rauskam, waren meine Haare kurzgeschoren wie die eines Soldaten. Danach habe ich meine Haare nie wieder wachsen lassen.

(ATMO) Coffee-Shop, Popmusik

(AUTORIN) Wenn die islamische Kleiderordnung für die Frauen nicht wäre, könnte ich mir einbilden, in einem Studenten-Cafe irgendwo in Deutschland zu sitzen. Alkohol gibt es hier natürlich nicht. Aber junge Männer und Frauen sitzen zusammen plaudernd an den Tischen. Unter manchen Mantelkleidern und Tschadors schauen modische Plateauschuhe hervor. Hier und da sitzen verliebte Pärchen und halten Händchen. All das ist verboten. Noch vor ein paar Stunden wurde ich Zeugin, als das Komitee, wie die Revolutionswächter hier genannt werden, ein junges Paar im Auto anhielt und zur Rede stellte. Sie mußten sich ausweisen und konnten zum Glück belegen, daß sie verheiratet sind. Auch die Musik im Cafe würden die Revolutionswächter nicht dulden; manchmal wechselt sie schlagartig, und ich begreife, daß die Besitzer ein sehr wachsames Auge darauf haben, wer sich vor dem Cafe in der Passage aufhält. Ich spreche mit anderen jungen Leuten: Fardin handelt mit Textilien und Hamid ist Verkäufer.

(O-TON 10: FARDIN) Ich habe meine Augen überall, um sicher zu gehen, daß ich mit meiner Freundin nicht geschnappt werde. Nicht etwa, weil ich davor Angst hätte, nein, ich denke nur an das Ansehen des Mädchens, mit dem ich zusammen bin. Weil im Iran Beziehungen noch nicht zur Normalität gehören, könnte es schlimm ausgehen, wenn die Eltern des Mädchens davon erfahren. Ich hatte mal eine Freundin, in die ich total verliebt war. Es war meine erste Freundin, die ich seit der siebten Klasse kannte. Als ihr Vater von unserer Freundschaft erfuhr, rief er mich zu sich und sagte: "Wenn Du meine Tochter heiraten willst, mußt Du entweder den Militärdienst machen oder die Universität besuchen." Ich bin natürlich den einfacheren Weg von beidem und zum Militär gegangen. Als ich nach sechs Monaten Dienst beurlaubt wurde und zurückkam, erfuhr ich, daß meine Freundin geheiratet hatte. Ich stellte sie zur Rede und erfuhr, daß sie in der Zwischenzeit zusammen mit einem Mann von den Revolutionswächtern aufgegriffen und zwangsverheiratet worden war, obwohl sie erklärte, daß sie mit ihm nur gesprochen habe. Sie wollte mich nicht mit einem anderen betrügen, sondern wurde zwangsverheiratet. Bei dieser Zwangsheirat setzten die Revolutionswächter als Morgengabe einen Körperteil des jungen Mannes fest, um sicher zu gehen, daß die Heirat nicht aufgelöst werden kann. Denn im Falle einer Scheidung müßte er das Pfand, bei ihm war es die Hand, vom Körper abtrennen, bevor er sich scheiden lassen kann. So etwas ist vollkommen unmenschlich. Nach diesem Vorfall versuchte ich, mir das Leben zu nehmen, weil ich es nur schwer verkraften konnte. Danach habe ich mir vorgenommen, mich nie wieder zu verlieben – was mir auch gelungen ist. Was soll das? Warum können wir nicht frei sein wie andere Jugendliche auch, zum Beispiel in Europa oder Amerika? Warum kann ich als junger Mann nicht problemlos eine Freundin haben? Damit meine ich keine sexuelle Beziehung, sondern einfach nur den geistigen Austausch.

(O-TON 11: HAMID) Im Vergleich zu früher haben diese Belästigungen, seit Präsident Khatami im Amt ist, erheblich nachgelassen. Ich glaube, daß der Jugend die letzte Präsidentschaftswahl in vieler Hinsicht geholfen hat, zum Beispiel im Bereich der Musik und überall dort, wo Verbote einigermaßen gelockert wurden. Im Radio hört man wieder Musik wie zu Schah-Zeiten, nur daß die Musiker heute leider im Ausland leben. Irgendwie arrangieren die sich mit der Jugend, aber noch nicht weit genug. Auch wenn Khatami verkündet, das Zusammensein von Jungen und Mädchen sei nicht anstößig, heißt das noch lange nichts. Wenn Mädchen und Jungen zusammen auf der Straße sind, müssen sie sofort mit allen Konsequenzen rechnen: daß sie mitgenommen, auf die Wache gebracht oder vor Gericht gestellt werden.

(MUSIK) Liebeslied (Googoosh) / darüber

(AUTORIN) "Du mit Deinem Gewand aus Blumen und Küssen hast mich zum Fest des Lichtes und des Spiegels entführt. Warum soll ich mich vor den Schatten der Nacht fürchten? Du hast mir die Sonne anvertraut. Hilf mir, damit die Straße im Nebel mich nicht von Dir trennt. Hilf mir, damit die müden Tauben nicht an den gefrorenen Ästen sterben ..." (Übersetzung Liedtext)

(MUSIK) Liebeslied (Googoosh) / frei stehend

(AUTORIN) Googoosh – sie war eine gefeierte Sängerin in den Jahren vor der Revolution. In mir und meiner Generation wecken ihre Lieder viele Erinnerungen. Googoosh lehnte es ab, ins Exil zu gehen. Sie blieb im Land und beschloß zu schweigen, solange ihre Musik verboten ist. Heute hören die jungen Iraner ihre Musik, die eigentlich die Musik ihrer Eltern war.

(O-TON 12: ANAHITA) Vor der Revolution gab es gemischte Schulen, Mädchen und Jungen saßen gemeinsam an einem Tisch. Aber nach der Revolution ist eine unsichtbare Wand zwischen Männern und Frauen errichtet worden. Einem Mädchen bringt man bei, daß sie sich nicht mit einem Jungen unterhalten und nicht mit ihm gesehen werden darf. Aber glaubt nur nicht, daß ein Mädchen hier nicht wüßte, was ein Junge ist. In der Schule tauschen sich die Mädchen aus und lernen voneinander. Natürlich alles heimlich, damit die Schulleiterin, die Lehrerinnen und die Eltern nichts davon erfahren. Im Iran würde kein Mädchen seinen Eltern erzählen, welche Art von Beziehung sie zu ihrem Freund hat. Alles macht man hier heimlich; es gibt alles, aber versteckt.

(AUTORIN) Jedes Kind weiß, daß die Welt hinter den privaten Mauern eine andere ist, als draußen auf der Straße. Wie verschwiegen schon Kinder sein können, das habe ich hier gelernt. Sie verplappern sich niemals. Auch der siebenjährige Sohn meiner Freundin verliert kein Sterbenswörtchen in der Schule über den spannenden amerikanischen Spielfilm, den er per Satellitenschüssel noch am Vorabend bei sich Zuhause gesehen hat. Er spricht auch nicht über das eine oder andere Glas Wein, das seine Eltern gelegentlich trinken. Die Kinder beherrschen die Kunstfertigkeit schon früh, sich trittsicher auf den Pfaden der Verstellung zu bewegen. Das gespaltene Bewußtsein wird ihnen zur zweiten Natur. Wie unbefangen dagegen meine Jugend war.... Ich mußte keine Energien auf diese schreckliche Disziplin verschwenden. Mußte nicht andauernd Angst haben, bei etwas Verbotenem entdeckt zu werden.

(MUSIK) ruhig

(GEDICHT) ... / Glauben wir. / Glauben wir an den Beginn der kalten Jahreszeit. / Glauben wir an die Ruinen der Gärten der Illusion, / an die unbenutzte, auf den Kopf gestellte Sichel / und jene gefangenen Samen. / Schau, wie heftig es schneit. / ...

(ATMO) Einstieg Taxi, Straßenverkehr

(AUTORIN) Im Schneckentempo schlängelt sich das Taxi durch das Verkehrschaos dieser Riesenstadt Teheran. Dicht an dicht verpesten unzählige alte Autos die Luft mit ihren Abgasen. Aus einer dreispurigen Fahrbahn machen sie ganz selbstverständlich fünf Spuren. Teheran kommt mir vor wie eine Stadt ohne Zentrum. Überall wird gebaut, oft bleiben die Bauten lange als halbfertige Gerippe stehen, weil fehlende finanzielle Mittel den Weiterbau nicht erlauben. Seit der Revolution hat es eine Bevölkerungsexplosion gegeben. Rund 14 Millionen Einwohner hat diese Stadt heute, viele Menschen sind vom Land hinzugezogen. Auch Hossein, mein Taxifahrer, ist nicht von hier. Er stammt aus einem kurdischen Dorf im Westen des Landes.

(ATMO) Musik im Auto, Radio, Straßenverkehr

(AUTORIN) Die Fahrt dauert Stunden, und das um 11 Uhr vormittags. Eine Uhrzeit, zu der die meisten in anderen Ländern auf der Arbeit sein müßten. Hier hat kaum jemand Arbeit. Wie viele arbeitslos sind, darüber gibt es keine Statistik. Andererseits gibt es Menschen, die nicht einem, sondern gleich drei Jobs nachgehen, um ihre Miete bezahlen zu können. Ein Fabrikarbeiter, der 30.000 Toman verdient, kann keine 70.000 Toman für die Miete einer Zweizimmerwohnung aufbringen. Also hilft zum Beispiel ein Angestellter der Justizverwaltung abends im Gemüseladen seines Schwagers und setzt nebenher Schriftsätze in juristischen Streitfragen für die Nachbarn auf, um sein geringes Einkommen aufzubessern. Dabei war für die verarmte Masse die Revolution in erster Linie mit sozialen Hoffnungen verknüpft. Politischer Machtkampf und Willkürherrschaft blockieren seit langem Planungen, Investitionen und Eigeninitiativen in der Wirtschaft, die für die Behebung der Massenarbeitslosigkeit und die Bekämpfung der Inflation so dringend notwendig wären. Korruption und Vetternwirtschaft verschärfen die soziale Lage. Endlich erreiche ich die nördlichen Viertel der Stadt am Fuße des Alborzgebirges. Hier, wo die Luft deutlich besser ist, wohnen die Wohlhabenderen und Reichen. Es gibt teure Einkaufszentren mit Waren aus aller Weit, auf den Straßen sehe ich viele der schweren amerikanischen Geländewagen. Die Häuser und Wohnungen sind westlich geprägt, auch die Wohnung von Professor Piron.

(O-TON 13: PROF. PIRON) Im Gefolge der Revolution, des acht Jahre andauernden Krieges mit dem Irak und des Ölpreisverfalls sind für das Land viele ernst zu nehmende Probleme entstanden. In einem Land, dessen Bevölkerung eine sehr junge ist – 60% der Bevölkerung sind Jugendliche -, betreffen diese Probleme in erster Linie die junge Generation. Es existiert Hoffnungslosigkeit unter den Jugendlichen. Auch wenn sie eine Arbeit finden, reicht das Geld für den Lebensunterhalt nicht aus, sie können keine Familie gründen. Es bleibt die Diskrepanz zwischen den Wünschen und den nicht erfüllten Hoffnungen.

(AUTORIN) Parvis Piron ist Professor für Soziologie an der Universität in Teheran. Er hat zahlreiche Projekte initiiert mit dem Ziel, Jugendliche mit einem demokratischen Verständnis von Selbstverwaltung vertraut zu machen. Sein Projekt "Stadt der Schüler" wurde international ausgezeichnet.

(O-TON 14: PROF. PIRON) Wirtschaftliche Probleme schaffen gleichzeitig einen guten Nährboden für gesellschaftliche Probleme. So ist dieses Land einerseits Transitland für Drogen, andererseits ist eine Gesellschaft mit Millionen Arbeitslosen geradezu der optimale Nährboden, um Drogen zu verkaufen und mit ihnen lukrative Geschäfte zu machen. Selbstverständlich resultiert daraus das Drogenproblem für diese Gesellschaft. Aus einer inoffiziellen Studie über die Drogenproblematik, die ich angefertigt habe, geht hervor, daß es 2 Millionen Drogenabhängige gibt. Wenn sich die gesellschaftliche Situation nicht von Grund auf ändert, wird das Drogenproblem noch erheblich zunehmen.

(AUTORIN) Professor Piron beweist Mut, wenn er offen über das Drogenproblem redet, über das man hier lieber den Mantel des Schweigens deckt. Viele Jugendliche haben mit mir darüber gesprochen, aber mit der Bitte, es nicht zu veröffentlichen.

(MUSIK) traditionelle Musik aus der Region Kaspisches Meer

(AUTORIN) Heute sind die Kindergärten und Schulen in der Hauptstadt geschlossen – wegen Smog. Die Luft ist trübe und stickig, man kann kaum durchatmen. Ich muß raus aus dieser Stadt. Hossein fährt mich zu Freunden in ein kleines Dorf in der Nähe des Kaspischen Meeres, 250 Kilometer nordöstlich von Teheran. Unsere Reise führt uns durch die kahle braune Gebirgslandschaft. Mit jedem Gebirgszug, den wir überqueren, nach jedem Tunnel wird die Gegend freundlicher und grüner. Die Region hier ist eine der wenigen im Iran, die nicht mit Wasserknappheit zu kämpfen hat. Es regnet reichlich. Zitrusfrüchte, Kiwis, Baumwolle, Tee und Reis wachsen hier.

(MUSIK) traditionelle Musik aus der Region Kaspisches Meer

(AUTORIN) Vor der Revolution war das Land Eigentum der Großgrundbesitzer, die Bauern besaßen nichts. Sie waren der Willkür ihrer Herren ausgesetzt und wurden nach Gutdünken bezahlt. Nach der Revolution teilte die Regierung das Land unter den Bauern auf. Die Ernte gehört jetzt ihnen, aus den Tagelöhnern wurden Landbesitzer. Erstmals wurden die ländlichen Regionen mit elektrischem Strom und Trinkwasser versorgt.

(ATMO) Dorf

(O-TON 15: ROYA) Früher kannten die Mädchen nur den Weg zur Schule und zurück nach Hause. Wenn eine Frau etwas anderes machen wollte, wurde sie von den Männern verspottet: "Wenn selbst wir nichts machen können, was wollt ihr Küken denn dann erreichen?" Die Männer hatten gegenüber ihren Frauen eine sehr engstirnige Sichtweise. Sie vertraten die Ansicht, daß eine Frau mit 19 Jahren zu heiraten und in dem Haus ihres Mannes zu wohnen hat, um die Kinder großzuziehen. Frauen durften noch nicht einmal ihre Kinder allein zum Kinderarzt bringen. Der Weg vom Dorf in die Stadt ist weit; die Männer hatten es ihren Frauen verboten und die Frauen hatten selber Angst.

(AUTORIN) Als ich Roya zum ersten Mal sah, kam sie von der Ziegenweide und trug, wie die meisten Frauen auf dem Land, ihren geblümten Tschador geschickt um den Körper geschlungen. Das läßt ihr genügend Spielraum für die körperliche Arbeit.

(O-TON 17: ROYA) Auch ich bin immer nur zur Schule gegangen und wieder zurück nachhause. Nach dem Abitur hing ich da rum und hatte nichts zu tun. Eines Tages wurde ich für ein Programm des Landwirtschaftsministeriums ausgewählt, die Frauen in meinem Dorf zu informieren und zu unterrichten. Die Männer waren sehr dagegen und haben uns nicht zugetraut, mit dem für die Genossenschaft zur Verfügung gestellten Geld wirtschaften zu können. Sie wollten nicht, daß ihre Frauen und Töchter Mitglied unserer Genossenschaft werden. Mit den größten Schwierigkeiten haben wir es überhaupt nur geschafft, 50 Frauen als Mitglieder zu gewinnen.

(AUTORIN) Roya hat mich zum Tee eingeladen. Sie ist 24 Jahre, eine aufgeweckte Frau, die eine ruhige Selbstgewißheit ausstrahlt. Ihre wachen Augen lachen oft. Mit 19 Jahren wurde sie von den Frauen des Dorfes zur Vorsitzenden der Genossenschaft gewählt. Aus den Gewinnen der gemeinsam geführten Seidenraupenzucht haben die Frauen eine kleine Fabrik für Seidenspinnerei finanziert.

(O-TON 18: ROYA) Das hat dazu geführt, daß die Männer ganz schön staunten. Es hat die Denkweise und den geistigen Horizont unserer Frauen verändert. Das Heiratsalter ist erheblich gestiegen. Heute wird eine Frau von 30, 35 Jahren nicht mehr gehänselt, wenn sie noch nicht verheiratet ist, und die Männer sagen nicht mehr, daß die Frauen unfähig sind. Die Frauen haben ein viel höheres Ansehen in der Umgebung bekommen, und die Frau, die vorher nicht allein zum Arzt gehen durfte, kann jetzt sogar ohne Mann bis nach Teheran oder noch weiter fahren, um ihre Einkäufe und Besorgungen zu machen. Ich habe bei den Kommunalwahlen die meisten Stimmen erhalten. Ausgerechnet die Männer, die gegen mich waren und gespottet haben, gaben mir ihre Stimme und haben mich als ihre Vertreterin gewählt. Die meisten jungen Frauen aus dem Dorf gehen jetzt sehr weit weg, um zu studieren, und es ist keiner mehr da, der ihnen sagt: Ihr müßt heiraten.

(AUTORIN) Im Bereich der Bildung ist im Iran in den letzten zwanzig Jahren mehr passiert als je zuvor. Bei der Landbevölkerung, der städtischen Unterschicht und bei den Frauen hat eine wahre Bildungsrevolution stattgefunden. Paradoxerweise hat ausgerechnet die islamische Kleidervorschrift vielen Mädchen aus traditionellen und religiösen Familien den Schulbesuch ermöglicht. Ihre Eltern mußten nun nicht mehr die Gefährdung der Sittsamkeit ihrer Töchter im öffentlichen Leben fürchten. Die groß angelegte Alphabetisierungskampagne und die allgemeine Einführung des kostenlosen Unterrichts senkten die Analphabetenrate landesweit auf nunmehr 15 Prozent. Vor der Islamischen Revoltution gab es über 60 Prozent Analphabeten im Iran. Meine Großmutter war eine von ihnen, sie konnte weder lesen noch schreiben. Heute hat sich die Zahl der Hochschulabgänger und der Studierenden verzehnfacht. Über 50 Prozent sind Frauen. 'Sittsam' gekleidet betreten die Frauen nun auch den Arbeitsmarkt, zumal ihr Verdienst eine unerläßliche Ergänzung der kargen Familieneinkommen bedeutet.

(MUSIK) Instrumentalmusik / darüber

(GEDICHT) ... Die Tage sind vorbei, / die Tage der Autorität und des Erstaunens, / die Tage des Traums und der Wirklichkeit, / die Tage, die in jedem Schatten ein Geheimnis bargen, / in jeder verschlossenen Schachtel einen Schatz / in jeder Ecke der Rumpelkammer. / In der Stille des Mittags schien mir, wie jene Weit selbst, / schien mir wie ein Held, wer keine Angst vor der Dunkelheit hatte. / ...

(O-TON 19: ANAHITA) Ich habe eine sehr religiöse Familie. Mein größte Problem war nicht das Kopftuch, ich wollte auch frei entscheiden, wo ich hingehe, ob ich jemanden besuche oder in Urlaub fahre – Dinge, die für sie undenkbar waren. Dann habe ich begriffen, daß ich mich finanziell unabhängig machen muß, wenn ich möchte, daß mein Vater weniger Kontrolle über mich hat.

(AUTORIN) Anahita und Roya – die eine aus der Stadt, die andere vom Land – zwei mutige Frauen, die sich Schritt für Schritt Freiräume erobert haben und ihre eigenen Lebensvorstellungen verfolgen. Beide sind nicht verheiratet. Ich weiß, wie schwer die Fesseln der Tradition hier wiegen und was es bedeutet, sich über sie hinwegzusetzen.

(O-TON 19a: ANAHITA) Wir lernen nicht, alleine zu leben und zurecht zu kommen. Wir bekommen beigebracht, in der Gemeinschaft zu leben, und daß es schwer ist, alleine zu sein, weil man vor Einsamkeit umkommt. Wir werden dazu erzogen, unsere Onkel und Cousinen zu lieben, da wir aus demselben Fleisch und Blut sind. Blutsverwandschaft zählt mehr als Freundschaft.

(AUTORIN) Für die meisten jungen Männer und Frauen im Iran ist ein Leben ohne Heirat und Familie undenkbar. Darum lande ich auch bei fast jedem meiner Besuche auf einer Verlobungs- oder Hochzeitsfeier.

(ATMO) Hochzeitsfeier

(O-TON 20: ANAHITA) Schau mal, wenn in Europa ein 18jähriges Mädchen alleine leben möchte, zieht es einfach bei den Eltern aus. Sie geht arbeiten und lernt, finanziell unabhängig zu werden und auf eigenen Beinen zu stehen. Europa lehrt seine Kinder auch, selbständig zu sein. Hier bei uns ist das ganz anders.

(AUTORIN) Eine Hochzeit wie aus dem Bilderbuch. Keine unter den weiblichen Gästen, die nicht mit perfektem Make-Up und aufregendem Partykleid erschienen ist. Eng müssen die Kleider sein, mit extremem Dekolleté. Eine Live-Band spielt, die Frauen tanzen mit schwingenden Hüften erotisch und lasziv vor den Augen der Männer. Ich fühle mich wie auf einem Heiratsmarkt. Spürbar entlädt sich der ganze Druck der Verbote, der im Alltag auf Männern und Frauen lastet. Jeder und jede scheint die Möglichkeiten dieses Festes nutzen zu wollen. Vor wenigen Jahren habe ich erlebt, wie Braut und Bräutigam, Frauen und Männer in getrennten Räumen feiern mußten. Die Revolutionswächter kontrollierten die Feiern und lösten sie auf, wenn sie auf 'Unsittliches' stießen. Heute besticht man das Komitee mit gehörigen Summen. Ein üblich gewordenes Verfahren, um sich Kontrollen vom Hals zu halten.

(O-TON 21: HOSSEIN) Unsere Art zu heiraten ist viel schöner als die in Teheran. Hier ist alles künstlich, aber in den Dörfern ist alles natürlich, die Menschen und die Luft. Die Traditionen dort sind ausgezeichnet, vor allem die der Jungfräulichkeit.

(AUTORIN) Daß Hossein, der vom Lande kommt, nicht viel für Teheran übrig hat, habe ich auf unseren vielen gemeinsamen Fahrten bemerkt. Er ist zuvorkommend und höflich. Mit mir, einer Frau, unterhalten wollte er sich nur seiten. Nur wenn er wütend wurde, brach er sein langes Schweigen und schimpfte auf die Stadt. Die Empörung über diese Hochzeit steht ihm in diesem Augenblick ins Gesicht geschrieben.

(O-TON 22: HOSSEIN) So oder so kommt man früher oder später dahinter, auch bei den Teheraner Frauen, die einfach behaupten, sie seien noch Jungfrauen, das niemals stimmen kann. Wenn Sie sich hier in der Gesellschaft umschauen, werden Sie feststellen, daß von 100 Frauen 80 keine Jungfrauen mehr sind. Stellen Sie sich mal vor, da hat sich der Bräutigam in so hohe Unkosten für die ganze Hochzeit gestürzt, um dann in der Hochzeitsnacht festzustellen, daß seine Braut keine Jungfrau mehr ist. Stellen Sie sich nur mal diese Schande vor! Das kann man wohl kaum ertragen. Aber es könnte so kommen...

(O-TON 23: ANAHITA) Im Iran gilt eine Frau ohne Mann nicht als erwachsene reife Frau. Erst eine verheiratete Frau wird für voll genommen. Nur der Ehemann, das Kind und das Familienleben machen eine ideale Frau aus. Außerdem hat man hier leider die Vorstellung, daß mit einer Frau, die mit 30 oder 35 immer noch keinen Mann gefunden hat, irgend etwas nicht stimmen kann. Entweder ist sie keine 'gute' Frau, oder sie muß eine körperliche oder geistige Behinderung haben.

(O-TON 24: HOSSEIN) Schauen Sie sich nur die stark geschminkten Gesichter an, diesen Lippenstift. Wenn Sie das sehen, dann wissen Sie doch schon Bescheid. Meine Familie ist strikt gegen das Schminken. Vielleicht denken die alle modern oder europäisch, daß sie sich nichts mehr aus ihrer Jungfräulichkeit machen. Ich meinerseits lege großen Wert auf die Jungfräulichkeit und habe keine Lust, mich mit so einem Abfall zu unterhalten. Die Frau, die ich mir als Ehefrau vorstellen kann, kommt aus einer ganz anderen Gegend, wo es so etwas nicht gibt. Vielleicht spotten einige und sagen: Wieso hast Du Dir eine vom Dorf geholt? Ich glaube aber, daß das Dorf viel besser ist, als die moderne Stadt, wo es so viel Schweinereien gibt.

(O-TON 25: ANAHITA) Bis ein Mädchen im Iran heiratet, steht sie unter der Obhut ihres Vaters. Das heißt, solange ein Mädchen noch unverheiratet ist, muß der Vater finanziell für sie aufkommen. Egal, ob sie arbeitet oder nicht. Deswegen können iranische Frauen 40 oder 50 Jahre alt sein, und trotzdem wohnen sie noch bei den Eltern. Sie könnten heute in Teheran auch alleine für sich leben, aber wenn sie das nicht tun, dann deshalb, weil der Vater seine Pflichten gegenüber der Tochter kennt und weiß, daß er bis an sein Lebensende für sie aufkommen muß. Wenn sie heiratet, dann ist es die Pflicht des Ehemannes, für seine Frau zu sorgen. Dann entscheidet der Mann darüber, wohin die Frau geht oder nicht, was sie denkt und ißt. Weil er es ist, der sie unterhält.

(AUTORIN) Tatsächlich denken viele Männer hier für sich europäisch, für ihre Ehefrauen aber immer noch traditionell. Um vor- und außereheliche Beziehungen, die streng verboten sind, zu legalisieren, haben die Mullahs nach islamischem Recht die Sighe wieder eingeführt, die Ehe auf Zeit. Eine scheinheilige Lösung, die offiziell verbotene Prostitution zu bemänteln. Eine Sighe-Ehe kann für Tage, Wochen, Monate oder auch nur für zwei Stunden geschlossen und dann wieder aufgelöst werden.

(O-TON 27: ANAHITA) Die Frauen heute sind nicht mehr die Frauen von damals. Unsere Gesetze sind 1000 Jahre alt, aber heute haben wir im Iran Fernseher, Satellitenschüsseln, Video, Zeitschriften, Zeitungen, einfach alles. Heute wird uns alles bewußt: wir sehen eine amerikanische Frau, die sich ihren Ehemann selbst aussucht, und ihre Art zu leben. Wir wissen, was in Europa passiert. Wenn wir unseren Fernseher anstellen, dann sehen wir CNN und BBC. Ich kann erfahren, wie die Modenschau in Paris ist oder was das Scheidungsgesetz in Amerika besagt. Wenn eine iranische Frau das alles mit einem Knopfdruck erfährt, dann fängt sie an nachzudenken.

(MUSIK) Instrumentalmusik

(GEDICHT) ... / Sie nahmen die ganze Naivität des Herzens / zum Märchenschloß mit. / Wie kann eine sich noch zum Tanzen erheben / und ihre kindlichen Haare in das fließende Gewässer halten, / und den Apfel, den sie doch gepflückt und gerochen hat, mit den Füßen zertreten. / ...

(O-TON 28: PROF. PIRON) Die wichtigste Veränderung in der iranischen Familie ist, daß die Autorität der Eltern in Frage gestellt wurde. Die Kinder verlangen von ihren Eltern Antworten und Erklärungen. Auch die Menschen auf der Straße fordern Erklärungen und Analysen. Die neue Generation teilt nicht mehr unsere Angst. Ich glaube, die Jugend will zwar eine islamische Republik, aber mit mehr Freiheiten, mit mehr Entscheidungsfreiraum. Sie will eine zivile Gesellschaft, in der sie sich organisieren kann, mit eindeutigen Gesetzen, die ihre Rechte schützen.

(O-TON 29: AZAM TALEGHANI) Nach der Revolution habe ich beobachtet, wie sich diese Gesellschaft entwickelt und ob die Menschen zu ihren natürlichen und menschlichen Rechten kommen. Wenn wir dorthin kommen, dann haben wir weniger Probleme. Wenn wir das aber nicht erreichen, dann müssen wir weiter Kritik üben und weiterhin schreiben, so wie früher. Dann dürfen wir nicht schweigen.

(ATMO) laute Demogeräusche

(O-TON 32: Ali-Reza Die Gründe für die Demonstration sind komplex, aber der Hauptgrund war die Schließung der Zeitung "Salam". Die Hardliner verschärfen das Pressegesetz wegen der bevorstehenden Parlamentswahlen. Sie versuchen, den Meinungsaustausch über politische Themen zu stoppen. Wenn wir die Erlaubnis bekommen hätten, zu demonstrieren und unsere Einwände friedlich zu äußern, dann wäre das alles nicht passiert. Wir wollen keine neue Revolution, wir müssen mit Vernunft handeln und Abstand von jeglicher Form der Gewalt nehmen.

(AUTORIN) Seit dem Amtsantritt Präsident Khatamis sind Dutzende von neuen Zeitungen auf den Markt gekommen, von der Leserschaft begeistert begrüßt und von den Konservativen behindert. Diese Zeitungen übernehmen zunehmend die Rolle politischer Parteien, die im Iran verboten sind. Nicht von ungefähr lösten die Ankündigung eines schärferen Pressegesetzes und das Verbot von "Salam" die schwersten Unruhen seit Beginn der Islamischen Republik aus.

(MUSIK) Instrumentalmusik, getragen

(AUTORIN) Zwei große Machtblöcke haben den Iran im Jahre 21 seiner Islamischen Republik gespalten und zur Kampfstätte um die Zukunft gemacht. Irans Weg zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ist steinig und immer aufs neue gefährdet. Präsident Khatami genießt zwar die Unterstützung von siebzig Prozent des Volkes, aber ihm fehlt die Macht, weitreichende Reformen durchzusetzen. Nicht er, sondern der religiöse Führer ist die höchste Instanz im Staat. Der religiösen Führung unterstehen die Justiz, der Geheimdienst, der gesamte Sicherheitsapparat sowie Radio und Fernsehen. Bisher haben die konservativen Mullahs auch die Mehrheit im Parlament und im Wächterrat, der die Zulassung der Kandidaten zu Wahlen kontrolliert. Trotzdem könnte sich dies Mehrheitsverhältnis ändern, wenn im Februar 2000 ein neues Parlament gewählt wird.

(O-TON 33: PROF. PIRON) Ich habe gelernt, daß die Jugend ein großes Potential besitzt, und das könnte unsere Gesellschaft von Grund auf umwälzen. Ich hoffe, daß das passieren wird. Es war dieses Potential, durch das Khatami an die Macht gekommen ist und Diskussionen entfacht wurden über Dialog, zivile Gesellschaft, kulturellen Austausch, über Freiheit, über die Rechte der Frauen und der Jugend. Meiner Ansicht nach kann der Islam in Einklang mit einer zivilen Gesellschaft stehen. Das hängt von der religiösen Einstellung ab. Bei uns ist momentan genau diese Diskussion im Gang: Die eine Seite vertritt eine sehr strenge Auffassung von Religion, die mit einer zivilen Gesellschaft nicht in Übereinstimmung zu bringen ist. Aber die Menschen im Lande wollen eine freiere Auffassung von Religion. Unsere Gesellschaft steuert in schnellem Tempo auf eine zivile Gesellschaft zu. Ich glaube, daß die Veränderungen im Iran unumkehrbar sind. Es können Rückschläge auftreten, die das Ganze um zwei Jahre verzögern, aber es gibt kein Zurück mehr.

(MUSIK) Instrumentalmusik

(GEDICHT) ... / Ich spreche nicht vom furchtsamen Flüstern im Dunkeln, / Ich spreche vom Tag, von offenen Fenstern / Und von frischer Luft. / Vom Ofen, in dem aller Tand verbrennt, / Vom Ackerland, das andre Saaten trägt, / Von Geburt, Heranreifen und Stolz. / ...

(O-TON 35: ANAHITA) Nach 20 Jahren wiederholt sich alles nur noch und verliert jede Bedeutung. Auch mit Gefängnis, Schlägen, Peitschenhieben, mit Komitee und Gericht können sie die Menschen nicht mehr einschüchtern. Warum? Weil sie es nicht geschafft haben, neue Ideen zu entwickeln.

(Ende)
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