Startseite – Filme – Weißes Gold – Materialien –

Die Kontorflagge

Am letzten Sonntag unserer langen Liegezeit mit dem Vollschiff "Walküre" in Valparaiso im Sommer des Jahres 1910 erhielten wir hohen Besuch an Bord, nämlich unsern Reeder Henrique Fölsch mit Gattin und Tochter. – Herr Fölsch befand sich damals mit Familie auf einer Reise entlang der Westküste, hatte seine Salpetermine, vielleicht waren es auch mehrere, in der Nähe von Taltal besucht und wollte nun von Valparaiso aus über die Anden nach Buenos Aires fahren. So lag es natürlich nahe, daß er die Gelegenheit benutzte, sein Schiff zu besichtigen und mit Kapitän Parow zu sprechen. Obwohl uns im Logis dieses Ereignis nur am Rande berührte, konnte es natürlich nicht ausbleiben, daß abends an der Back das Gesprächsthema "Reeder Fölsch" war, den noch keiner von uns gesehen hatte. Die "Walküre" hatte damals eine recht junge Besatzung an Bord, der größte Teil der Matrosen war um die Zwanzig herum. Nur einen Oldtimer hatten wir an Bord mit Namen Arthur, der damals wohl 55 Jahre als gewesen sein mag und noch auf Clippern gefahren hatte. Arthur war ein stiller Mensch, redete kaum mit den anderen Matrosen, mit uns Jungens gar nicht. Aus Ehrfurcht wagten wir auch kaum ihn anzureden. Aber an diesem Abend taute er richtig auf. Man konnte fast annehmen, er kenne Herrn Fölsch persönlich, was ja durchaus möglich war, denn beide waren so ziemlich in einem Alter. Arthur erzählte uns also folgendes:

Henrique Fölsch sowie sein Mitreeder, ich glaube, er hieß Braun, hatten früher zur See gefahren. Einer als Zimmermann, der andere als Segelmacher oder Matrose. In einem Salpeterhafen hatten sich beide kennengelernt und beschlossen, in das Salpetergeschäft einzusteigen, denn damals war Salpeter noch das "weiße Gold" für Chile. Wie sie es nun fertigbrachten, Minenbesitzer zu werden, weiß Ich nicht mehr, und vielleicht wußte es Arthur selbst nicht. Tatsache aber ist, daß die beiden Unternehmungslustigen bei dem Geschäft reiche Leute wurden. Eines Tages kehrten sie als solche nach Hamburg zurück und gründeten die Segelschiffsreederei "Fölsch und Braun". Damals hatten sie, soviel ich weiß, außer der "Walküre" die beiden Vollschiffe "Waltraude" und "Wellgunde". Als erstere im Jahre 1912 an der Ostküste Englands verloren ging, erwarb die Reederei ein Schiff der Alsterreederei, eine Viermastbark, welche den Namen "Walküre" erhielt.

An dem betreffenden Sonntag kam also Herr Fölsch mit Familie am Vormittag an Bord, in ihrer Begleitung befanden sich wohl noch 15 Gäste, darunter einige Damen.

Bei einem Begrüßungstrunk im Salon überreichte Fräulein Fölsch dem Kapitän eine seidene Kontorflagge, welche sie selbst angefertigt hatte. Es war durchaus verständlich, daß sie die Bitte stellte, dieselbe setzen zu dürfen. Damit brachte sie jedoch Kippen Parow sowie auch den Ersten in böse Verlegenheit, denn auf der "Walküre" war es für eine Dame, jedenfalls damals, einfach unmöglich, diese Tätigkeit auszuüben. Da in allen drei Toppen die Flaggenleinen in der Sahling endeten, mußte man, um eine Flagge zu heißen, erst nach oben klettern, was man nun Fräulein Fölsch unmöglich zumuten konnte. So mußte die Bitte abgeschlagen werden.

Aber Steuermann Weiß wußte Rat, er wolle den besten Leichtmatrosen mit der kostbaren Flagge in die Kreuzsahling schicken. – Dieses war ohne Frage Erwin Sch., ein echter Hamburger Jung, damals wohl 18 Jahre alt. Er war ein tüchtiger Seemann und hätte, da er schon die vierte Reise nach der Westküste machte, eigentlich schon Matrose sein müssen, war aber in dieser Beziehung nicht sehr ehrgeizig. Was ich am meisten an ihm bewunderte, war seine unerschütterliche Ruhe.

Erwin erhielt auf dem Achterdeck also von Fräulein Fölsch vor versammelter Schiffsleitung und Gästen die Kontorflagge überreichte, die er gleichmütig hinter seinen Leibriemen klemmte und im Kreuztop aufenterte. Daß ihm auf Vor- und Achterdeck wohl vierzig Augenpaare folgten, störte ihn keineswegs. In der Sahling angekommen, nahm Erwin gemütlich Platz und holte die alte, schon ziemlich ausgefranste Flagge nieder. Nach einer kurzen Weile stieg ein weißer Ball zum Flaggenknopf hinauf, ein kurzer Ruck, und am blauen Himmel wehte die weiße Flagge mit den schwarzen Buchstaben H. F. aus, was vom Achterdeck mit einem "Ah" und Händeklatschen begrüßt wurde. Sah hübsch aus, die neue Flagge und paßte auch gut zu dem weißen Namenwimpel im Großtopp. Langsam kletterte Erwin wieder nach unten, wo er auf dem Halbdeck die alte Flagge dem Ersten überreichte. Fräulein Fölsch bedankte sich gerührt bei Erwin und der Alte sagte: "Lot Di von Hermann een Schnaps geben!" Nun, Hermann, der Kajütsjunge, war nicht kleinlich und schenkte noch einen Zweiten ein. Als er wieder zum Großluk kam, auf der wir alle saßen, meinte ein Matrose: "Se harr Di ok gern'n Kuß geben kunnt!" Aber Erwin winkte gleichmütig ab.

Nach einer Weile gab es für uns "vorm Mast" noch eine Überraschung. Frau Fölsch und Tochter kamen nach vorn, gefolgt von Hermann, der einen großen Korb schleppte. Derselbe war gefüllt mit Kuchen, richtige Konditorware! Uns gingen die Augen über. Jede Wache erhielt eine große Blechback mit Kuchen, ebenso die Unteroffiziere. Unser Sprecher, Matrose Albert K. aus Pommern, bedankte sich für alle und lud die Damen ein, unser Logis zu besichtigen, welches wir Jungs für diesen Tag besonders geschrubbt hatten. Aber in Anbetracht des hohen Türsülls und ihrer langen Röcke lehnte Frau Fölsch dankend ab. Jeder bekam aber noch einen Händedruck von den Damen, die sich dann wieder nach Achtern begaben. Wir wunderten uns nicht wenig, daß Fräulein Fölsch sich nun bei dem Kajütsjungen einhakte und einer meinte: "Nu kiek mol düssen Hermann an! Aber dann hörten wir vom Koch, daß Hermann bis jetzt auf dem Gut der Familie Fölsch in Schlesien als Kutscher tätig gewesen sei. Weshalb er dieses feine Bantje auf dem Kutschbock in Stich gelassen und zur See gegangen war, konnte keiner von uns verstehen. Ob er dem Seemannsberuf treugeblieben ist, weiß ich nicht, er blieb nach der Reise als einziger von uns an Bord als Leichtmatrose. Als wir am Nachmittag dann beim Kaffee den schönen Kuchen verzehrten, meinte Erwin: "Fölsch harr us ok gern 'n Kist' Zigarren bringen kunnt!" Aber unsem Reeder sahen wir nur von weitem.

Am Montag nahmen wir die letzten Heuballen für Taltal über, und die "Walküre" wurde zum Ballastplatz geschleppt, wo wir seeklar machten. Bei bedeckter Luft und einem steifen Süder verließen wir wenige Tage später morgens den Hafen von Valparaiso, in welchem wir fast drei Monate gelegen hatten. Bald standen alle Segel bis auf die Bagien und Stagsegel und "platt vorm Laken" jagte unsere "Walküre" nordwärts.

Die Steuerbordwache, zu der auch ich gehörte, blieb an Deck. Otto, der Leichtmatrose aus Königsberg, klarte im Kreuztopp auf, während ich unten das laufende Gut an seinen Platz brachte. Herr Thode, unser Zweiter, rief vom Halbdeck Otto zu, er solle nachher die Kontorflagge wegnehmen.

Ich war gerade mit dem Aufschießen des laufenden Gutes vom Kreuztop fertig, als Otto mir aus der Kreuzmars zurief: "Kuddelke, nem mal dem Kontorflagg' woar!" Er hatte dieselbe nur lose zusammengebunden und, ehe ich ihm zurufen konnte, ich würde zur Mars hinaufkommen, warf er die Flagge hinunter. Durch die frische Brise entfaltete sich dieselbe, blieb aber einen Augenblick am Kreuzwant hängen. Schnell enterte Ich nach oben, aber schon hatte sich die Flagge wieder gelöst und schwebte nun wie ein fliegender Teppich abwärts, von meiner ausgestreckten Hand wohl nur einen Meter entfernt. Entsetzt starrte ich ihr nach und wäre fast hinterhergesprungen, aber bei dieser Fahrt war das natürlich Wahnsinn. Noch bevor sich die Flagge aufs Wasser legte, brüllte Otto von oben: "Dem Kontorflagg' sind über Bord jefallen!" Eine Meldung, welche ja eigentlich völlig überflüssig war.

Herr Thode, der Zweite, unterbrach, als er Ottos Ruf hörte, sofort seine Wanderung auf dem Halbdeck und stürzte zur Reeling. Gerade segelte die Kontorflagge am Achterschiff vorbei. Noch einmal leuchteten die schwarzen Buchstaben H. F. auf weißem Grund nach oben, dann verschwanden sie achterraus im brodelnden Kielwasser. Die schöne Flagge, an der Fräulein Fölsch soviele Stunden liebevoll genäht, hatte gerade einen Tag über dem Schiff ihres Vaters geweht. Da ich nur wenige Meter vom Zweiten entfernt auf der Nagelbank stand, hörte ich deutlich, als er vor sich hinmurmelte: "Oh Gott, oh Gott! Wat nu?" In diesem Moment kam der Alte an Deck geschossen, er muß Ottos Ruf im Kartenhaus gehört haben. "Wat is los?" fragte er. Der Zweite berichtete kurz und wutentbrannt wollte sich der Käppen auf mich stürzen, der ich noch immer wie festgenagelt auf der Nagelbank stand. Aber der Zweite kam mir zu Hilfe und zeigte nach oben, wo Otto, dieser Unglücksvogel, noch in der Mars stand und der Flagge nachstarrte. Ich war mit einem Satz von der Nagelbank hinunter und begann wie wild, noch einmal bei den Enden zu hantieren, wollte ich doch gern erfahren, wie die Sache nun weiterging.

Da hörte ich auch schon Käppen Parows Stimme: "Komm' doal, Du Beist, ick will Di dat Fell aftrecken!" Nun, dieser unfreundlichen Aufforderung wollte Otto wohl doch nicht nachkommen, denn als ich schnell einmal nach oben schielte, sah ich, daß er inzwischen die Sahling erreicht hatte und sich dort niederließ. Der Alte rannte nun immer um Kartenhaus und Mast herum und schrie Otto des öfteren zu, sofort an Deck zu kommen. Aber Otto schien völlig taub geworden zu sein, er blieb ruhig sitzen. Ich mußte an eine Katze denken, welche ich einmal als Kind hatte auf einen Baum flüchten sehen und der Verfolger, ein Hund, immer um denselben herumsauste und nach oben bellte. Da es am Kreuzmast für mich beim besten Willen nichts mehr zu tun gab, ging ich zur Vorluke, wo meine Wachkameraden im Raum beschäftigt waren und noch keiner von Ottos Mißgeschick wußte.

Kurz vor 12 Uhr erschien der Zweite am Luk und rief: "Logge!" Der Leichtmatrose Erwin und ich wurden nach achtern geschickt und so mußte ich mit Herzklopfen noch einmal in "die Höhle des Löwen", wo der Alte noch immer mit grimmiger Miene auf und ab rannte und den Kreuztopp im Auge behielt. Als der Zweite nur das Loggeglas in die Hand drückte, konnte ich noch schnell feststellen, daß Otto nicht mehr in der Sahling war, sondern auf der Bramrah Platz genommen hatte. ("Walküre" führte im Kreuztopp enkelte Bram.)

Als der Zweite freudestrahlend 10 Knoten Fahrt verkündete, schien das auf Käppen Parow überhaupt keinen Eindruck zu machen Er rannte weiterhin auf Steuerbordseite auf und ab und bei jeder Wendung warf er einen Blick zu Otto hinauf. -- Da wir deutsche Wache gingen, war um 12.30 Uhr Ablösung. Der abgelöste Rudersmann erzählte beim Mittagessen, daß der Alte unter Deck gegangen sei, der Erste habe ihm jedoch sofort zu melden, falls "dat Beist", damit meinte er Otto, herunterkommen sollte. Herr Weiß forderte diesen ebenfalls mehrfach auf, seinen Platz auf der Rah zu verlassen und an Deck zu kommen, aber Otto blieb auf der Rah sitzen und blickte traumverloren über die weite See.

Als die Backbordwache Kaffeezeit machte, erfuhren wir, daß Otto noch immer im Kreuztopp säße und der Alte wieder seinen Posten auf dem Halbdeck bezogen hätte. Die Sache wurde uns allen allmählich unheimlich. Otto hatte seit Frühstück nichts gegessen und bei dem kalten Süder konnte er sich den Tod dort oben holen, wußte ich doch genau, daß er nur sein blaues Päckchen von der Hamburg-Süd trug. Sicher würde er nun im Kreuzmast sich der herrlichen Zeit auf dem Musikdampfer erinnern, wo er als Promenadendecksgast in weißer Uniform herumspaziert war. Wegen der über Bord gefallenen Kontorflagge saß er nun den ganzen Tag im Mast und das nur deshalb, weil der Alte ihm "das Fell abziehen" wollte. Aber ganz so schlimm wäre es wohl doch nicht gekommen und schließlich war Otto ein sehr guter Boxer. Das waren so meine Gedanken, als ich abends für unsere Wache die Erbsensuppe von der Kombüse holte, denn um 7 Uhr hatten wir Wache an Deck. Es war heller Mondschein und die "Walküre" machte immer noch schöne Fahrt, der Wind hatte allerdings etwas abgeflaut. Ich warf noch einen Blick zum Kreuztopp hinauf, aber von Otto war nichts zu erkennen. Als wir dann beim Essen im Logis waren, hörten wir jemand Achtern angelaufen kommen, vielmehr schienen es zwei zu sein. Alle wußten wir, daß es nun Otto an den Kragen ging. Schon hörten wir neben unserem Logis Fußgetrampel. Fallen von Schlägen und Stöhnen. Dann riß jemand die St. B. Logistür auf und befördert von einem kräftigen Kapitänstritt schoß jemand ins Logis, wo er liegen blieb.

Zum zweiten Male an diesem Tage hörte ich nun die Worte: "Ogottogott!" Es war natürlich unser Otto, der sich langsam aufrappelte und auf einer Seekiste zusammensank. Wie sah der Ärmste aus? Blaß wie der Tod, die Haare wirr am Kopf. Schrecklich!

Auf einen Wink unseres Wachältesten Albert war ich aufgesprungen und schenkte Ottos Mug voll heißen Tee. "Drink erstmol 'n Schluck!" richtete Albert nun das Wort an Otto. Derselbe nahm seinen Platz an der Back ein, konnte aber kaum die Mug halten. Erst nun sahen wir, daß seine Handflächen feuerrot, wenn nicht sogar blutig waren. Auf Alberts Frage, wie er an Deck hinuntergekommen wäre, berichtete Otto, er sei am Kreuzstengenstag heruntergerutscht Da er aber völlig verklammt gewesen sei, hätte er sich nicht ordentlich festhalten können und hätte sich wohl die Handflächen verbrannt. Das war auch tatsächlich der Fall. Ja, der Alte habe ihn dabei doch bemerkt und da er nicht hätte schnell laufen können, berichtete Otto weiter, sei er gerade vor der Logistür erwischt worden. – Auf Alberts Frage: " Hest Du Di wehrt?" schüttelte Otto nur resigniert den Kopf. Dabei war er unser bester Boxer, hatte aber doch zuviel Respekt gehabt, sich zur Wehr zu setzen Albert holte aus seiner Koje Valine und rieb Ottos zerschundenen Hände damit ein. Die Matrosen beschlossen dann, daß Otto auf dieser Wache keinen Rudertörn gehen sollte, einmal seiner Hände wegen, aber auch, um dem Alten nicht wieder so bald vor die Augen zu kommen.

Aber auf der 4-bis-8-Wache am anderen Morgen hatte Otto dann doch den letzten Rudertörn übernommen Wie immer erschien kurz vor acht Käppen Parow an Deck, um "die Höhe zu nehmen". Vielleicht war seine Wut infolge guter Nachtruhe und des zu erwartenden guten Etmals verraucht – jedenfalls knurrte er Otto nur an: "De Flagg treck ick Di von de Hür af, Du Oas!" Was sollte Otto weiter darauf erwidern als: "Is good Koptein!"

Nun, so gut war dieses für Otto durchaus nicht, denn die Leichtmatrosenheuer war damals nur 20 Mark per Monat.

Auf der Heimreise hat Käppen Parow dann aus einem Bettlaken und schwarzem Flaggentuch eine neue Kontorflagge genäht. Sie war ein Meisterwerk geworden. Als wir Monate später in Liverpool festmachten, wehte sie stolz im Kreuztopp. Selbst Fräulein Fölsch, falls sie bei unserer Ankunft am Quai gewesen wäre, hätte kaum erkannt, daß es nicht "ihre" Kontorflagge war.

Bei der Abmusterung in Liverpool erhielt Otto seine volle Heuer ausbezahlt.

Kapt. Carl Thiesen

(Aus: Der Albatros, Heft 2, 1968, 13. Jahrgang; Amicale Internationale des Capitaines au long-cours Cap Horniers, Deutsche Sektion)
SeitenanfangImpressumDatenschutz