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Chilesalpeter

Wie er vor achtzig Jahren gewonnen wurde

Der Rohstoff des Salpeters ist der Caliche (spr. kalítsche). Dieser liegt als Gesteinsschicht in der Atacamawüste in Nordchile und bildet einen Streifen von 600 km Länge und 15 bis 20 km Breite im Osten des Küstengebirges in 1500 bis 2000 m über N. N. Geröll und Sand decken den Caliche. Die Caliche-Schicht ist etwa ein bis zwei Meter stark und wurde mit Dynamitsprengungen erschlossen. Gesteinstrümmer wurden zur Oficina (Werk/Fabrik) gefahren, wo sie in Steinbrechern zu Brocken gemahlen wurden in Größe von Tennisbällen, die danach in großen Wasserkesseln durch Kochen die Mineralien ausschieden. Die Lauge wurde anschließend in Kristallisationsbecken gepumpt. Die Wüstensonne ließ den Wassergehalt verdunsten – fertig war der Salpeter, der unter freiem Himmel gelagert wurde, weil es keine Luftfeuchtigkeit gab.

Dieser Fertigungsablauf ist auch heute noch der gleiche in den modernen Oficinas. Diese neuen Werke arbeiten rationeller. Motorisierte, sehr große Erdbewegungs- maschinen erschließen und transportieren den Caliche. Moderne elektronisch ge- steuerte Kessel haben die Kosten gesenkt und nur wenige Arbeiter werden beschäftigt. Und wie war es damals? Sehr viele Männer mußten in der Wüstensonne schuften. Zahlreiche Maultiere litten und verreckten im Zuggeschirr der Carretas.

Mein Vater, Curt Francke (1884 – 1951), leitete die Oficina Chile. Er hinterließ mir einige Fotografien, die in den Jahren 1921 bis 1925 entstanden. Die Oficina Chile, zusammen mit der in der Nähe gelegenen Oficina Alemania, gehörte der Firma Fölsch & Martin mit Sitz in Hamburg. Mein Vater arbeitete von 1904 bis 1914 und 1919 bis 1926 auf der Chile. Aus dieser „fernen“ Zeit kann ich mich an viele Einzelheiten erinnern. Mit meinem gleichaltrigen Freund Llallo stromerte ich viel herum in der Siedlung und auch in der Oficina. Und mein Vater hat mir später, als wir in Deutschland waren, vieles über seine Arbeit berichtet und was man mit dem „Salz der Wüste“ machen kann.

Doch nun will ich die alten Fotos beschreiben. Sie sagen eigentlich mehr aus als lange Texte – aber einige Hinweise sind wohl doch von Nöten...

Für die Operarios (Arbeiter) und Dinamiteros, die auf dem Caliche-Feld zu tun hatten, wurde der Campamento Atacama eingerichtet, die Unterkunft. Das Caliche-Feld war im Laufe der Jahre so weit von der Oficina gerückt, daß es Transport-Probleme zur Arbeitsstelle gab, was ja heutzutage mit der Motorisierung gar nicht besteht. Die Oficina ist in der Bildmitte gut zu erkennen. Das Gelände bis zur Oficina ist bereits vom Caliche ausgeräumt. Die Dinamiteros waren damals unentbehrlich. Sie legten mit ihren Sprengungen den Caliche frei. Heute besorgen das motorisierte Maschinen.

Mein Vater und andere leitende Angestellte ritten hinaus auf das Caliche-Feld. Jeden Morgen, um sechs Uhr, stellte ein Peón (Pferdeknecht) einen wunderschönen Schimmel vor die Tür unseres Wohnhauses. Kaum saß mein Vater im Sattel, preschte das Pferd im Galopp Richtung Caliche-Feld. Das Tier kannte den Weg...

Die herausgesprengten Caliche-Brocken wurden in Carretas verladen. Maultiere, vier- und fünfspännig im Zuggeschirr, zogen die Carretas zur Verladerampe, wo eine Feldbahn die Ladung übernahm.

In der Caliche-Annahme der Oficina wurden die Wagen entladen. Der Caliche wurde auf Förderbändern zu den Steinbrechern gebracht. Die Arbeiter nannten diese Maschinen „Chanchos“ (Schweine). Die Geräusche, die beim Zerkleinern entstanden, klangen wie das Grunzen der Borstentiere.

Eine Gruppe Arbeiter. Ich kann nicht sagen, in welchem Betriebsbereich dieses Foto gemacht worden ist.

Der Caliche wurde in großen Kesseln mit Wasser angesetzt und regelrecht ausgekocht. Genügend Wasser war stets das größte Problem für alle Oficinas. Am Westabhang der Hochkordillere, dem Grenzgebirge zu Argentinien, wurde nach Wasser gesucht. Es wurden Brunnen niedergebracht, Pumpenstationen eingerichtet und mit Überwachungspersonal besetzt. Jede Oficina hatte ihre eigenen Wasser- leitungen, die laufend kontrolliert wurden. Es mußte einfach genug Wasser fließen, für den Caliche, die Maultiere und die vielen Menschen.

Auf dem fünften Foto eine Gruppe Arbeiter, die den Ripio – den ausgelaugten Caliche – aus einem Kessel räumen.

Mit einer Feldbahn wurde der Ripio auf die Abraumhalde gebracht. Schon damals, ganz fortschrittlich, wurde der Zug von einer E-Lok gezogen.

Eine Kesselbatterie, ganz modern mit Ölfeuerung.

Ein kostbares Abfallprodukt: Das Jod. Hier die Jodsammelstelle. Das Jod wurde in kleine Fässer gefüllt, die in frische, noch feuchte Rinderhäute gewickelt und vernäht wurden. Das Jod wurde nach England gesandt, zur Londoner Produktenbörse. England hatte das Weltmonopol.

Der Herr in der weißen Jacke: Mein Vater.

Die Maestranza, wörtlich die Meisterei, eine sehr wichtige Betriebsabteilung. Alle Maschinen mußten von ihr gewartet werden. Aber auch Reparaturen gehörten zu ihren Aufgaben. Hier arbeiteten nur ausgebildete Fachleute.

Als der Bedarf an elektrischer Energie immer größer wurde, bestellte man in Deutschland ein Diesel-Werk. 1921 war Baubeginn, 1922 ging es in Betrieb. Zu sehen sind die Baugrube, die fast fertige Halle und die in Montage befindliche Innenausstattung.

Für das E-Werk wurde ein Wasser-Kühlturm errichtet. Mein Freund Llallo und ich sind oft darauf herumgeklettert. Selbst wir Jungs fanden die Aussicht von diesem erhöhten Platz grandios. Vor uns lag die Pampa (Wüste), das Küstengebirge, die Hochkordillere und der Campamento Atacama. Alles in unglaublicher Klarheit – die trockene Luft, ohne jeglichen Dunst – machte es möglich.

Gegenüber von unserem Wohnhaus lag die Oficina mit dem Lagerplatz des Salpeters, dem Salitre. Dort wurde das kostbare „Salz der Wüste“ in Säcke gefüllt. Die Eisenbahn, die einer englischen Firma gehörte und die auch die Oficina Alemania bediente, brachte den Salpeter nach Taltal, dem Verladehafen nach Europa und Nordamerika.

Das ist Taltal. Am rechten Bildrand ein großes, weißes Gebäude, die Verwaltung der Oficinas Chile und Alemania.

Geschichtliches zum Schluss

Die ersten Oficinas wurden 1830 errichtet. Die Besitzer waren chilenische und englische Unternehmer. Ihre Salpeterwerke lagen jedoch auf peruanischem und bolivianischem Staatsgebiet. Bolivien besaß sogar einen Seehafen an der Pazifikküste: Antofagasta. Die Oficinas wurden im Laufe der Jahrzehnte immer zahlreicher. Sie warfen für ihre Besitzer gute Gewinne ab, die nach Chile bzw. England gingen. Auch Perú und Bolivien profitierten von der blühenden Industrie. Nur: Beide Staaten waren pleite. Das war um 1876. In Lima und La Paz dachte man laut an die Sanierung durch Nationalisierung der Oficinas. Chile warnte dringend vor einer solchen Aktion und drohte mit einem Krieg. Perú und Bolivien meinten, es würde schon gut ablaufen und beschlossen die staatlichen „Übernahme“. In Santiago fackelte man nicht lange und erklärten 1879 den Waffengang, der bis 1883 dauerte. Die chilenischen Soldaten, von preußischen Offizieren ausgebildet, eroberten Lima. Chile behielt die Pazifikküste bis einschließlich Arica. Bolivien verlor Antofagasta.

Bis 1926/27 blühte die chilenische Salpeterindustrie, die auch für den Staatshaushalt so wichtig war. Für jeden Sack Salpeter, der das Land verließ, mußte Ausfuhrzoll erlegt werden. In Deutschland hatten die Chemiker Haber und Bosch 1914 ein Verfahren erfunden, mit dem der in der Luft enthaltene Stickstoff gewonnen werden kann. Alle deutschen Patente wurden im Versailler „Vertrag“ 1919 für die Siegermächte freigegeben. Der US-Unternehmer Guggenheim errichtete in den Staaten und in Kanada Stickstoffwerke. Natürlich war der Chilesalpeter ein Ärgernis für ihn. Durch Finanzmanipulationen und Bestechung von Politikern kam es zur Schließung von etwas 60 Oficinas, die rund drei Millionen Tonnen jährlich produzierten. Etwa 60.000 Salitreros und ihre Angehörigen verließen die Atacama und gingen nach Mittel- und Südchile. Es kam zu sozialen Unruhen. Der Staatshaushalt geriet aus den Fugen – es fehlte der Ausfuhrzoll! Erst der Diktator Ibañez wurde mit dem Chaos fertig. Heutzutage gibt es nur noch wenige Oficinas, z. B. María Elena, die neuzeitlich eingerichtet sind und profitabel produzieren.

Hellmuth Francke, Albstadt-Ebingen, August 2002

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